Nicht jeder, der möchte, kann sich gegen Grippe impfen lassen. Es sind die nackten Zahlen, die dagegen sprechen. Rund 26 Millionen Impfdosen liegen bereit, aber das reicht bei mehr als 80 Millionen Einwohnern eben nicht. Deshalb gibt es Empfehlungen, für wen eine Impfung besonders sinnvoll ist. Damit ist zugleich verknüpft, für wen die gesetzliche Krankenversicherung die Impfung auch bezahlt. Die Empfehlung ist in diesem Fall also nicht nur ein höflicher Hinweis, sondern eine effektive Steuerung des Bedarfs. Kleiner Schönheitsfehler: Folgen alle Berechtigten der Empfehlung, reicht der Impfstoff trotzdem nicht.
Denn die Menge des hergestellten Impfstoffes richtet sich nicht nach diesem fachlich definierten, theoretischen Bedarf, sondern stützt sich auf die Erfahrungen aus dem Vorjahr, wie viel Impfstoff tatsächlich gebraucht wurde. Daraus leitet sich Anfang jedes Jahres eine kollektive Schätzung ab, nach der Impfstoff bestellt und bis zum Beginn der Grippesaison im Herbst ausgeliefert wird. Zugleich wird auch die Preisspanne ausgehandelt, in der sich die Hersteller bewegen dürfen. Das Jahresgeschäft für Influenza-Impfstoffe ist damit eigentlich spätestens im Februar beendet. Die Hersteller produzieren exakt die bestellte Menge, die ihnen zu festgelegten Preisen sicher abgenommen werden. Keine Überproduktion, keine Fehlkalkulation, kein Risiko, keine unnötigen Kosten für die Krankenversicherung und damit letztlich für die Versicherten. Es ist ein eingespieltes Verfahren, und man könnte es Planwirtschaft nennen.
Spahn sollte nicht Impfstoff für alle in Aussicht stellen
In diesem Jahr hat den üblichen Ablauf allerdings die Corona-Pandemie empfindlich gestört. So ist es ein Problem, wenn im Juni oder Juli offenkundig wird, dass es sinnvoll ist, in diesem Herbst mehr Menschen zu impfen. Alle Weichen sind schon gestellt. Das sollte Gesundheitsminister Jens Spahn wissen und nicht Impfstoff für alle in Aussicht stellen.
Aber sein persönlicher Beitrag zu dem Problem dürfte eher klein sein. Die Frage der notwendigen Impfstoffmenge reiht sich ein in eine Vielzahl von Abläufen und Systemen, in denen eine Pandemie nicht vorgesehen ist. Ob Arbeitswelt oder Bildungswesen: Was in der Vergangenheit mehr oder weniger hinreichend funktioniert hat, beruht vielfach auf der Annahme, dass Zukunft in erste Linie die Fortsetzung der Gegenwart bedeutet. Das Jahr 2020 lehrt bislang vor allem, wie falsch das ist.