Hoher Besuch in Bremen: Vom 7. bis zum 10. Dezember 1872, vor genau 150 Jahren, weilte Richard Wagner mit seiner Frau Cosima in der Hansestadt. Der "Courier an der Weser" berichtet in seiner Ausgabe vom 10. Dezember, der Komponist habe geäußert, "dass Bremen, welches er zum ersten Male besuche, in jeder Beziehung auf ihn einen sehr angenehmen Eindruck gemacht habe". Was Cosima in einem Tagebucheintrag vom 8. Dezember bestätigt, in dem sie Bremen als eine Stadt bezeichnet, "die uns außerordentlich gefällt".
Das ist keinesfalls als oberflächliche Schmeichelei zu betrachten; denn Cosima findet in ihren Tagebüchern für andere Städte, die sie auf ihrer Reise zuvor besucht hatten, durchaus kritische Töne. In Köln etwa hinterließ der Dom "einen kalten Eindruck" bei dem Ehepaar. Und in Hannover sei Richard "ganz entsetzt" gewesen "über ein Bierhaus beim Theater, darin er zwei ganz unanständige Dirnen als Schenkinnen gefunden" habe.
Im Dom quillt die Träne
In Bremen hingegen bewundert das Ehepaar "schöne Anlagen mit einer Mühle in der Mitte, die Richard ungemein erfreut". Die Wagners besuchen den Dom und „empfangen einen tiefen Eindruck; es ist Kommunion, und ein schöner ergreifender Choral wird in der alten Kirche dazu gesungen; die Orgel ertönt und die Träne quillt". Danach wird "das Rathaus, die Liebfrauenkirche besehen", und insgesamt ist man sehr beeindruckt "von den neuen wie von den alten Teilen" der Hansestadt.
Wichtig sind den beiden Reisenden auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen. Etwa eine Einladung des Gewerbevereins in das (im Zweiten Weltkrieg zerstörte) Gewerbehaus, das gerade zehn Jahre zuvor grundlegend umgebaut worden ist: "Wir besuchen das interessante Gebäude mit mehreren Meistern, die uns führen und uns ein Frühstück anbieten." Darauf folgt ein "Besuch der Börse, deren anständiger Ton Richard sehr auffällt".
Auch gibt es ein "Diner beim Konzert-Kapellmeister Reinthaler: 18 Personen ungefähr. Es wird sehr hübsch gesprochen, das Ganze macht einen guten Eindruck". Eine Wetterkapriole nutzt Wagner, um zum wesentlichen Punkt seines Besuchs zu kommen. Cosima schildert die Situation knapp und ohne Kommentar: „Donner und Blitz zu unser aller Verwunderung. Richard sagt: 'Das bedeutet die Gründung eines Wagner-Vereins in Bremen.'"
Auf Granit gebissen
Private Wagner-Vereine gibt es zu dieser Zeit bereits in etlichen deutschen Städten. Doch zu früh gefreut. In Bremen wird ein Richard-Wagner-Verband erst mehr als ein halbes Jahrhundert später, nämlich 1936, ins Leben gerufen. Wagners Bemühungen stoßen bei seinem Bremer Besuch – bei aller Höflichkeit im Umgang – vor allem bei Carl Martin Reinthaler auf Granit, der als Domkantor und gleichzeitiger Leiter der Singakademie sowie der "Privat-Concerte" eine nicht unumstrittene, aber einflussreiche Persönlichkeit ist. Reinthalers Musikgeschmack ist eher konservativ, für Cosima ist der Kantor ein "Gegner" und ein Angehöriger "der musikalischen Muckerclique".
Für das Bremer Opernleben zeichnet jedoch nicht Reinthaler verantwortlich, sondern Theodor Hentschel, Erster Kapellmeister des Stadttheaters und ein glühender Wagner-Verehrer. Er leitet am 8. Dezember 1872 die Festvorstellung der "Meistersinger" zu Ehren des Komponisten im Stadttheater auf dem Theaterberg. Die „Weser-Zeitung“ berichtet tags darauf: "Die Vorstellung gestaltete sich in jeder Beziehung zu einem Festabend. Sobald Herr Richard Wagner mit seiner Gattin an der Brüstung des ersten Ranges sichtbar geworden war, empfing ihn das Orchester mit einem Tusch, in welchen die Zuschauer in wahrhaft enthusiastischer Weise einstimmten." Das Orchester habe, so notiert Cosima in ihrem Tagebuch, "alles Mögliche geleistet". Sie krittelt aber an der Regie herum, die sie "sehr erbärmlich" findet.
Bremen ist in diesen Jahren eine Hochburg der Wagner-Rezeption. Alle wesentlichen Opern sind hier zwischen 1853 und 1883, also noch zu Lebzeiten des Komponisten, zu hören. Der von Wagner für Aufführungen außerhalb Bayreuths gesperrte "Parsifal" erklingt in Bremen am ersten Tag seiner Freigabe, dem 1. Januar 1914 – vor Paris, Mailand, Wien und vielen anderen europäischen Bühnen.
Überhaupt spielt auch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus Wagner eine entscheidende Rolle im Bremer Opern-Repertoire. Claus Blum belegt das in seiner Bremer Musikgeschichte „Musikfreunde und Musici“ mit genauen Zahlen. Erst seit den 1960er-Jahren, seit Ende der Intendanz von Albert Lippert, beginnt (übrigens ganz im Gegensatz zu anderen Bühnen) das Interesse der Bremer Theaterleiter an Wagner zu schwinden. Um heute im norddeutschen Raum etwa einen "Ring des Nibelungen" zu erleben, muss man nach Oldenburg, Kiel, Lübeck oder Hamburg fahren.
Richard Wagners kurzer Bremen-Besuch endet nach einer nicht sehr angenehmen Nacht. Die Austern, die er am Abend zuvor im Ratskeller konsumiert hat, "erwecken ihm", notiert Cosima, "Albträume; alle Treulosigkeiten, die ihm widerfahren, kommen ihm durch den Sinn". Die Verabschiedung am Morgen des 10. Dezember gestaltet sich dennoch freundlich durch eine Schar junger Leute, die (so Cosima) "vermutlich den – sorgsam von den Hauptherrn hintertriebenen – Gedanken des Wagner-Vereins aufnehmen werden". Und weiter geht es in Richtung Magdeburg, der nächsten Station der Reise.