An einem Tisch im hinteren Teil der Kneipe sitzt Kai Eggert. Ein gelber Farbtupfer vor dunklem Holz, den Pullover von Borussia Dortmund bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Nicht der beste Platz, denn hier muss er den Kopf immer etwas zur Seite drehen, um einen der Fernseher im Blick zu haben. Alternativen sind rar. Es ist Mittwoch, 21 Uhr, und die Bar an der Schlachte ist voll – ein untrüglicher Hinweis dafür, dass Fußball auf dem Programm steht. Dortmund ist zu Gast beim FC Barcelona. Champions League, die Besten der Besten. 90 000 Zuschauer im Stadion und Millionen vor den Fernsehern. Kai Eggert, 37, gehört zu letzteren. Zumindest heute. Im Red Rock trifft er zwei weitere Mitglieder des BVB-Fanclubs Schwarzgelb. Alexander Matysik leitet ein Team von Sozialpädagogen, Viviane Harkort promoviert an der Bremer Uni. Eggert selbst ist körperlich behindert und Frührentner. Matysik kommt aus Osnabrück, Harkort aus Bochum und Eggert aus dem ländlichen Mecklenburg-Vorpommern. Drei Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, die ohne den gemeinsamen Verein kaum an diesem Tisch zusammensitzen würden.
„Fußballfans sind ein Querschnitt der Gesellschaft“, sagt Daniel Behm, Sozialarbeiter im Fanprojekt von Werder Bremen. Dort hat Behm auch mit Leuten zu tun, für die Fußball etwas mehr als nur ein Spiel ist. Behm begleitet vor allem die jugendlichen Ultras, also den harten Kern der Anhänger von Werder Bremen. Gewalt sei in seiner Arbeit als Fanbetreuer ein Thema, sagt Behm. Dabei gehe es aber eher um Gewaltprävention. 400 Ultras gebe es etwa unter den Fans von Werder Bremen, sagt Behm. Aktiv nach gewalttätigen Auseinandersetzungen suchen würden davon nur die wenigsten. „Vielleicht zehn Stück“, schätzt er. „Der Rest geht dem Ärger aber nicht immer aus dem Weg.“
Kai Eggert kann das nicht nachvollziehen. „Ich verabscheue jegliche Gewalt“, sagt er. Als regelmäßiger Stadionbesucher habe er schon einige Auseinandersetzungen miterlebt. „Ich finde es krass, wie schnell die Stimmung umschlagen kann“, sagt Eggert. Bei einem Auswärtsspiel in Berlin sei er zuletzt sogar zwischen die Fronten geraten. „Die Polizei hat Tränengas gesprüht. Ich musste ins Sanitätszelt, und dann war das Spiel für mich gelaufen.“ Auch mit Pyrotechnik sei er schon beschossen worden. „Das hat im Stadion nichts zu suchen“, meint Eggert.
Für viele Leute sei der Fußball ein klassisches Ventil, um sich mal richtig auszutoben und angestaute Aggressionen rauszulassen, sagt Daniel Behm. „Auf der Arbeit schreit man nicht seinen Chef an und sagt ihm, wie scheiße er ist.“ Behm betont aber, dass die Pöbeleien im Stadion nur selten in Gewalt umschlagen würden. „Ich glaube nicht, dass der Fußball überdurchschnittlich viel Gewalt hervorbringt.“ Bei allen Großveranstaltungen gebe es Schlägereien. „Die stehen aber nicht so sehr im Fokus wie der Volkssport Fußball.“ In sechs Jahren beim Fanprojekt habe er höchstens zehn große Auseinandersetzungen mitbekommen, sagt Behm.
„Ich liebe diesen Verein“
Dass im Fußball die Emotionen manchmal hochkochen, kann Kai Eggert verstehen. Man sollte aber friedlich bleiben und Provokationen vermeiden, findet er. Auch mit den größten Rivalen, den Schalkern, trinke er schon mal ein Bier. Dortmund-Fan sei er schon seit seiner Kindheit. „Ich liebe diesen Verein“, sagt Eggert. Seit 1999 lebt er in Bremen, eine Dauerkarte für den BVB hat er trotzdem. Alle zwei Wochen fährt er Richtung Westen und feuert seinen Klub im Stadion an. Überhaupt investiere er viel Zeit und Geld in den Fußball. Viele Gefühle natürlich auch. Im April 2013 zum Beispiel, Champions League, als die Dortmunder gegen Málaga in letzter Sekunde den Einzug ins Halbfinale schafften. „Ein Wunder“, sagt Eggert. „Und ich war im Stadion.“ Ein Dortmunder Sieg an diesem Abend wäre zumindest ein kleines Wunder. Eine frühe Chance ist da – und wird kläglich vergeben. „Sch...“, sagt Eggert. Da will niemand widersprechen. Nach einer halben Stunde verschwindet er im Raucherraum. Als er eine Zigarette später wieder am Tisch sitzt, führt Barcelona mit 2:0. Eine Hand knallt auf den Tisch, ansonsten nimmt man es gelassen hin. Eggert bestellt Whisky-Cola, die anderen Bier. Im Red Rock ist alles friedlich.
Im Vergleich zu anderen Städten halte sich die Gewalt in der Bremer Fanszene sehr in Grenzen, sagt Daniel Behm. „Vereine wie Rostock, Dresden oder Frankfurt haben da deutlich größere Probleme.“ Ein bestimmter Typ Mensch lasse sich auch in der gewaltbereiten Ultra-Szene nicht erkennen. „Vom Arbeitslosen bis zum hochdotierten Professor ist da alles dabei“, sagt Behm. Vornehmlich seien es jüngere Leute, aber auch unter den Älteren komme es schon mal zu Schlägereien.
Schlägereien gibt es an diesem Abend weder auf den Rängen des Camp Nou, dem Stadion vom FC Barcelona, noch im Red Rock an der Bremer Schlachte. Das 3:0 der Spanier lässt auch die letzten BVB-Hoffnungen sterben. Drei Gegentore und drei Whisky-Cola – dann ist Feierabend. „Wir sehen uns im Stadion“, sagt Kai Eggert und verschwindet mit seinem gelben Pullover im Nieselregen.
Gespielte Flucht
Sich freiwillig in einen Raum einsperren lassen – damit verbringen immer mehr Menschen ihre Freizeit. In sogenannten Escape-Rooms versuchen sie unter Zeitdruck zu entkommen, indem sie Rätsel lösen. Macht das wirklich Spaß? Und was steckt psychologisch dahinter? Um diese Fragen geht es im nächsten Teil unserer Serie, in dem wir auch uns selbst wegschließen lassen. Erscheinen wird er am 14. Dezember.