Vegesack. Menschen hasten vorbei, im Laufschritt, sie müssen ihren Zug erreichen. Für das Vegesacker Bahnhofsgebäude, an dem jeden Tag Hunderte Pendler vorbeikommen, haben sie kaum einen Blick. Wenn der Bahnhof in der Öffentlichkeit Thema war, dann ging es bisher zumeist um unschöne Aspekte wie Wandschmierereien, Müll und einen insgesamt unansehnlichen ersten Eindruck. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Das Landesamt für Denkmalpflege hat den Bahnhof jetzt unter die Lupe genommen und ist zu dem Schluss gekommen: Das Gebäude hat nicht nur eine große ortsgeschichtliche, sondern auch eine wertvolle kunsthistorische Bedeutung. Noch in diesem Jahr wird der Bahnhof Vegesack unter Denkmalschutz gestellt.
Es ist nicht das einzige Bahnhofsgebäude in Bremen-Nord, das die Denkmalpfleger in diesem Jahr intensiv betrachtet haben. "Wir untersuchen nach und nach alle noch existierenden historischen Bahnhöfe an der Strecke", erläutert Landeskonservator Georg Skalecki. Angefangen hat Denkmalpflegerin Jessica Hänsel weiter im Norden. Bereits im Mai dieses Jahres ist das Empfangsgebäude des Bahnhofs Blumenthal aus dem Jahr 1888 zum Kulturdenkmal erklärt worden.
Bau für 700.000 Taler
Noch älter ist der Bahnhof Vegesack. Eingeweiht wurde er am 8. Dezember 1862. 700.000 Taler hat der Bau damals gekostet, hat Hänsel herausgefunden. Weil das Gebäude sich auf dem Gebiet der Ortschaft Grohn befand, legte der Grohner Gemeinderat damals Beschwerde gegen den Namen ein. "Er wurde dann in Bahnhof Grohn-Vegesack umbenannt", so Hänsel. Erst seit 1939 lautet der offizielle Name des Bahnhofs Bremen-Vegesack.
Als Kopfbahnhof konzipiert, war der Bahnhof Endpunkt der zweigleisigen Bahnstrecke von Bremen nach Vegesack, "einer Zweigbahn der im selben Jahr in Betrieb genommenen Bahnlinie Bremen-Geestemünde", erläutert Hänsel. Sie betont, wie wichtig der Anschluss an das Netz der Staatsbahn für die Hafenwirtschaft und die Ansiedlung von Industrie vor Ort war. Mit der Gründung der Farge-Vegesacker-Eisenbahn (FVE) Aktiengesellschaft im Jahr 1884 und der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Vegesack-Farge im Jahr 1888 wurde der ursprüngliche Endbahnhof zu einem wichtigen Verkehrsknoten.
Wichtig für die Industrialisierung
"Der Bau der Bahnlinie brachte einen bedeutenden Entwicklungsschub für die Industrialisierung von Bremen-Nord mit sich", sagt Hänsel. Sie hat mehrere Abbildungen mitgebracht. Ein Stich aus dem Jahr 1907 zeigt den Bahnhof und seine ausgedehnten Gleisanlagen, dahinter die Fabrik der Norddeutschen Steingut. Auf einem Luftbild aus dem Jahr 1928 sind die werkseigenen Gleisanschlüsse für die Norddeutsche Steingutfabrik zu erkennen. Weitere Gleise liefen damals direkt bis an das Hafenbecken.
Im Zuge der Einrichtung eines zweiten Gleises auf der Strecke Burg-Lesum – Grohn-Vegesack wurde der Bahnhof 1906 und 1907 für rund 530.000 Mark erstmals erweitert. Ein zweiter, noch wesentlich umfangreicher Ausbau begann zwischen 1914 und 1916. Hänsel: "Wegen des Ersten Weltkriegs verzögerten sich die Arbeiten allerdings und wurden unterbrochen. Sie konnten erst 1925 beendet werden."
Auch aus kunsthistorischer Sicht ist der Bahnhof interessant, haben die Landesdenkmalpfleger festgestellt. "Früher waren Bahnhöfe repräsentative Gebäude. Das ist nicht vergleichbar mit den einfachen Zweckbauten von heute", sagt der Landeskonservator und richtet seinen Blick auf die Backsteinfassade, die mit zweifarbigen Friesen und einem Traufgesims verziert ist.
Repräsentativer Fahrkartenschalter
"Im Zuge des zweiten großen Umbaus wurden neue Bahnsteige und ein repräsentativer Fahrkartenschalter gebaut. Das Gebäudeinnere wurde mit Fliesen der Grohner Wandplattenfabrik ausgestattet, die ab 1920 zur Norddeutschen Steingut gehörte", erläutert Hänsel. Diese Fliesen sind bis heute erhalten und tragen ebenfalls wesentlich zur Bedeutung des Bahnhofs als Kulturdenkmal bei. In einem Katalog der Norddeutschen Steingut aus dem Jahr 1925 hat die Denkmalpflegerin etliche der Fliesen entdeckt, die bis heute den Bahnhof zieren.
Aufwendig gearbeitete, geflammte Fliesen mit Pflanzen und Blumenmotiven im Jugend- und Art-déco-Stil schmücken den Eingangsbereich. Auf Säulen stehen Putti mit Weintrauben oder Tieren. Hinter dem Tresen des Bahnverkaufsschalters verstecken sich weitere interessante Details wie ein Wandbrunnen und allegorische Darstellungen auf seegrünen Wandplatten. Mehrere Fliesen bilden ein großes Schiffs-Wandbild. Weitere Fliesen sind im Eingangsbereich des mittleren Gebäudeteils zu finden.
"Es gibt nur noch sehr wenige historische Wandgestaltungen mit Fliesen der Norddeutschen Steingutfabrik", betont Hänsel. Lediglich in der Kirche St. Michael Grohn, in einem Mauseoleum auf dem Grohner Friedhof und im Foyer der denkmalgeschützten ehemaligen Industrie- und Handelskammer in Bremerhaven seien Wände erhalten.
Damit auch der Bahnhof mit seinen dekorativen Elementen langfristig erhalten bleibt, werden das Empfangsgebäude aus dem Jahr 1862, die Anbauten aus der Zeit vom 1914 bis 1925 samt historischer Wandgestaltung sowie die Bahnsteigüberdachung mit ihren gusseisernen Stützen und dem genieteten Stahlfachwerk unter Schutz gestellt. Zum Denkmal-Ensemble gehört außerdem der ehemalige Güterbahnhof gegenüber, in dem sich heute der Kulturbahnhof befindet. "Da geht es allerdings nur um die Außengestaltung", sagt Skalecki.