Herr Demnig, wie kamen Sie auf die Idee, Stolpersteine für Opfer aus der NS-Zeit zu verlegen?
Gunter Demnig: Es gab im Mai 1990 eine Vorarbeit in Köln, und zwar eine Schriftspur auf der Straße: Mai 1940, 1000 Roma und Sinti. Im Mai 1940 sind aus mehreren westdeutschen Großstädten 1000 Roma und Sinti deportiert worden. Man kann sagen, diese Deportationen waren so etwas wie die Generalprobe, um später die Juden zu deportieren. Das war der Auslöser, die Namen dort zurückzubringen, wo das Grauen begann, wo die Menschen ihre Heimat hatten und abgeholt worden sind.
Daraus ist dann die Idee entstanden, Stolpersteine zu verlegen?Die Grundidee war, die Namen zurückzubringen. Der erste Gedanke war klassisch eine Tafel an die Wand zu schrauben. Für das Projekt in Köln hatte ich das große Glück, einen Leipziger Juden kennenzulernen, der beim WDR gearbeitet hat. Der hat zu mir gesagt, Gunter, Gedenktafeln für jüdische Opfer an Hauswände schrauben, vergiss es. 80, wenn nicht sogar 90 Prozent der Hausbesitzer würden dem niemals zustimmen.
Welchen Schluss haben Sie daraus gezogen?Ich habe mich an Rom und den Petersdom erinnert. Da läuft man gedankenlos über die Grabplatten, wo wirklich die Gebeine drunter liegen. Daraufhin habe ich mich im Museum für Sepulkralkultur kundig gemacht. Dort hat man mir gesagt, wenn Menschen über Grabplatten laufen, erhöht das die Ehre desjenigen, der dort begraben liegt. Ich muss zugeben, zunächst hatte ich ein wenig Bedenken. Deshalb habe ich die jüdische Gemeinde in Köln angeschrieben und um Rat gefragt. Ein dreiviertel Jahr später hat der Rabbiner mich eingeladen und gesagt, das könnt ihr machen. Das sind ja keine Grabsteine, sondern lediglich Gedenksteine. Zudem sagte er mir: Ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sein Name vergessen ist.
Haben Stolpersteine gegenüber Gedenktafeln einen weiteren Vorteil?Nachdem die ersten Steine in Köln verlegt waren, bin ich zu meinem Auto gegangen. Als ich mich noch mal umdrehte, sah ich, wie die ersten Passanten stehen geblieben sind. Wer den Stein sieht und den Text darauf lesen will, muss eine Verbeugung vor dem Opfer machen. Dieser Aspekt war mir am Anfang auch nicht klar.
Warum ist es Ihnen wichtig, an die Opfer der NS-Zeit zu erinnern?Ich denke, dass gerade die junge Generation, ich merke das, weil wir viel mit Schülern zusammenarbeiten, dass die über die Stolpersteine einen anderen Geschichtsunterricht erfahren. Wenn die Schüler ein Buch aufschlagen und lesen: Sechs Millionen ermordete Juden allein in Europa. Wenn sie nachhaken, erfahren sie, es waren noch mal sechs Millionen, vielleicht sogar acht, die aus anderen Gründen von den Nazis ermordet worden sind. Das ist eine abstrakte Größe. Das bleibt unvorstellbar. Wenn die Schüler dann aber ein Familienschicksal in der eigenen Umgebung aufarbeiten, dann bekommen sie auch wirklich mit, was da passiert ist. Das ist ein ganz anderer Geschichtsunterricht. Und ich habe gemerkt, die Jugendlichen sind an dem Thema interessiert. Sie wollen wissen, wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker passieren? Wir machen das aber auch für die Menschen, die sich heute fragen, warum habe ich keine Oma oder Uroma?
Wann haben Sie den ersten Stolperstein verlegt?Richtig los ging es für mich 1996 in Berlin, damals noch mit sehr vielen Schwierigkeiten. Wir haben das damals illegal gemacht. Eine Genehmigung hätten wir nicht bekommen. Die Gründe waren rein formal, von wegen Stolpern, das wird ja ernst genommen. Die treffende Definition hat mal ein Hauptschüler gebracht, der nach einer Verlegung von einem Reporter befragt wurde: Aber Stolpersteine sind doch gefährlich, da fällt man doch hin? Und der Schüler sagte: Nee, man fällt nicht hin, man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen.
Wie ging es weiter, nachdem Sie 1996 in Berlin richtig mit den Stolpersteinen angefangen haben?1997 kam ein Künstlertreffen in der Nähe von Salzburg. Da habe ich die ersten zwei Steine für ermordete Zeugen Jehovas verlegt. Dann war eine Pause und ab 2000 ist es dann richtig mit den Genehmigungen losgegangen, fast gleichzeitig in Berlin und in Köln. Inzwischen sind es in Deutschland fast 1300 Orte und 1500 in ganz Europa, an denen wir Stolpersteine verlegt haben.
Wie viele Stolpersteine haben Sie bisher insgesamt verlegt?Bisher haben wir über 80 000 Steine in ganz Europa verlegt, insgesamt sind es 26 Länder. Die Grundidee dahinter war, überall dort, wo die dritte Wehrmacht, die SS, die Gestapo, ihr Unwesen getrieben haben, dass dort symbolisch diese Stolpersteine auch auftauchen. Der Wiedererkennungswert für die Besucher ist dabei sehr interessant. Dann fahren sie nach Rom und stellen fest, hier auch. Umgekehrt auch ein Effekt: Klassenfahrt nach Berlin, in der Hamburger Straße sehen die Schüler die Steine, kommen nach Hause und fragen, was war denn bei uns im Ort? Dass sind die Effekte, die ich wichtig finde und wo ich sagen muss, deshalb muss es weitergehen. Für alle Fälle habe ich auch eine Stiftung ins Leben gerufen, damit es auf jeden Fall weitergeht.
Wie wird aus einen normalen Stein ein Stolperstein?Das ist ein Messingblech, die Schrift wird per Hand eingeschlagen. Dass ist mir sehr wichtig, dass es Handarbeit ist, und nicht fabrikmäßig gefräst wird. Schließlich war Auschwitz eine Mordfabrik. Dieses Blech wird anschließend in einen Betonwürfel eingegossen. Es ist also streng genommen kein Stein, sondern ein Betonwürfel.
Machen Sie das selbst?Nicht mehr. Am Anfang habe ich die Planung gemacht, ich habe die Steine hergestellt und verlegt. Inzwischen bin ich nur noch am verlegen. Michael Friedrichs-Friedlaender, ein Bildhauerkollege aus Berlin, macht die Schrifteinschlagung. Außerdem habe ich zwei Assistenten, die die Betonarbeiten machen.
Haben Sie alle 80 000 Steine selbst verlegt?Nein, inzwischen gibt es auch die Möglichkeit, dass etwa Schulklassen die Steine verlegen. Daran beteiligt ist dann zum Beispiel das Bauamt, damit das auch sicher ist. Gerade in der ersten Zeit der Corona-Pandemie war ich natürlich nicht unterwegs, und da wurden die Steine auch von Schülern verlegt.
Trotzdem ist ihr Terminkalender voll.Im vergangenen Jahr war ich 260 Tage unterwegs.
Haben Sie ein bestimmtes Ziel vor Augen, wie viele Stolpersteine Sie insgesamt verlegen wollen?Nein, ich will einfach weitermachen, so lange das Interesse da ist. Im Augenblick sehe ich da keinen Abbruch.
Das Interview führte Aljoscha-Marcello Dohme.Gunter Demnig
wurde 1947 in Berlin geboren und studierte dort Kunstpädagogik sowie Industrial Design an der Hochschule für bildende Künste. In Kassel studierte er außerdem Kunstpädagogik. Über verschiedene Stationen kam er 1993 schließlich zum Stolperstein-Projekt. Drei Jahre später verlegte er die ersten Steine in Berlin-Kreuzberg. Für die Stolpersteine hat er bereits mehrere Preise bekommen, unter anderem die Alternative Ehrenbürgerschaft der Stadt Köln und darüber hinaus die Otto-Hirsch-Medaille der Stadt Stuttgart.
Weitere Informationen
Am Dienstag, 13. Oktober, kommt Gunter Demnig nach Vegesack, um einen Stolperstein für Karl Wastl zu verlegen. Das Rahmenprogramm beginnt um 16.45 Uhr vor dem ehemaligen Wohnhaus des Widerstandskämpfers, Kirchheide 83.