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„Heilige Familie“ in Grohn Mitten im Gottesdienst krachte die Kirchturmspitze zu Boden

Vor genau 40 Jahren erlebte die damalige Küsterin Hannelore Tumbarinu einen aufreibenden ersten Arbeitstag in der katholischen Kirchgemeinde "Heilige Familie". Was geschehen war.
01.02.2023, 05:00 Uhr
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Von Winfried Schwarz

Während die meisten Menschen ihren ersten Arbeitstag mit guten Erinnerungen verbinden, erinnert sich die heute 73-jährige Hannelore Tumbarinu als ehemalige Küsterin der katholischen Kirche „Heilige Familie“ in Grohn noch heute mit Angst und Schrecken an diesen Tag. Mitten im Gottesdienst hatte eine Sturmböe die meterhohe Spitze des Kirchturms abgerissen und den Aufsatz des Dachreiters krachend auf den Boden neben dem Gotteshaus geschmettert.

Es war Dienstag, 1. Februar 1983, also vor genau 40 Jahren. Schon den ganzen Tag fegten Sturm und Regen über Bremen-Nord hinweg. In der 1903 von Richard Herzig als neugotischer Backsteinbau errichteten Kirche „Heilige Familie“ in der Färberstraße zeigte der ehemalige Küster, Hans-Joseph Mosch der jungen Mutter von zwei Kindern, wie man als Küsterin einen katholischen Gottesdienst vorbereitet, für Hannelore Tumbarinu totales Neuland, war sie doch gerade erst zwei Jahre zuvor als aus der evangelischen Kirche ausgetretene Christin zur katholischen Kirche konvertiert.

Erster Kontakt bei der Kindstaufe

Der 2019 gestorbene Pfarrer Wolfgang Krzizanowski war dabei ihr großer Förderer. Da zu damaliger Zeit in einer sogenannten Mischehe die Kinder katholisch getauft werden mussten, kam der Kontakt zwischen dem Seelsorger und der jungen Familie Tumbarinu zustand. Krzizanowski bemerkte rasch das Interesse von Hannelore Tumbarinu. Schon bald kam die Frage, ob sie sich die Aufgabe einer Küsterin vorstellen könne, da der amtierende Küster Grigoleit demnächst in den Ruhestand trete. Hans-Joseph Mosch war da längst als Küster  ausgeschieden, hatte aber die Aufgabe beibehalten, alle Gottesdienste ohne Orgelbegleitung – das waren vor allem Messen an Werktagen – mit elektronischer Musik tagesaktuell zu bestücken. Dazu hatte er sich auf dem Orgelboden eine „Einspielstation“ eingerichtet, nachdem er zu Hause von vielen Schallplatten die entsprechende Gottesdienst-Musik zusammengestellt hatte.

Im Altarraum richtete derweil Hannelore Tumbarinu zum ersten Mal alles für den Gottesdienst her. Trotz Sturm und Regen fanden sich allmählich zwischen 20 und 30 Gottesdienstbesucher ein, darunter Ansgar Mosch, Sohn des alten Küsters, der an diesem Abend den Lektoren-Dienst übernommen hatte. Unter den meist älteren Teilnehmern der Messe auch die heute 89-jährige Maria-Elisabeth Neudecker, sozusagen „rechte Hand“ von Pfarrer Krzizanowski.  Sie sind die letzten noch lebenden Zeitzeugen des Grohner Kirchturm-Absturzes.

Gewaltiger Schlag

Mitten im Gottesdienst mischte sich Knistern und Knarren immer stärker mit den Gebeten und Gesängen der Gläubigen, bis ein gewaltiger Schlag für jähes Entsetzen sorgte. Ansgar Mosch stürzte Richtung Kirchenausgang, um zu sehen, was passiert war und Pfarrer Krzizanowski bat die Mitfeiernden in den dem Aus- und Eingang gegenüberliegenden Altarraum und wartete auf eine Meldung von Lektor Mosch. Der konnte berichten, dass die Turmspitze zwischen Kirche und Gemeindehaus aufgeschlagen sei, Glockenstuhl und Glocke hingegen noch auf dem Dach waren.

In der anlässlich der 100-Jahr-Feier der Pfarrei im Jahre 2003 herausgebrachten „Grohner Bibel“ schreibt der heute 63-Jährige: „Der Glockenturm hatte bei stürmischem Wetter schon immer geknirscht. Daran hatten wir uns inzwischen gewöhnt. Am 1. Februar 1983 war es während des Abendgottesdienstes wieder einmal so weit. Plötzlich gab es ein fürchterliches Knirschen und Krachen. Ich lief nach draußen und da sah ich den Glockenturm zerstört auf dem Boden liegen. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt auf dem Orgelboden. Ich ging zurück und rief ihm zu, er solle sofort nach unten kommen. Ich hatte Bedenken, dass noch mehr passierte.“

Am Morgen des nächsten Tages untersuchten Polizei, Feuerwehr und Behörden die Absturzstelle. Bauexperten aus der Bistumsleitung in Hildesheim nahmen das 80 Jahre alte Gotteshaus in Augenschein und entschieden, die Kirche als insgesamt baufällig und einsturzgefährdet einzustufen und für einen Weiterbetrieb sofort zu sperren.

Die Turmtrümmer wurden beseitigt, aus der Kirche die liturgischen Gewänder und Geräte herausgeholt und im unbeschädigt gebliebenen Gemeindehaus ein Gottesdienstraum eingerichtet. Schon einen Tag später fand dort die erste Messe, die Nachfeier des Festes „Mariä Lichtmess“ mit festlicher Kerzenweihe statt. Hannelore Tumbarinu hatte ihre erste Bewährungsprobe als Küsterin bestanden.

Privat stand jetzt der Einzug in das renovierte Küsterhaus neben der Kirche an, aus dem die Familie noch einmal ausziehen musste, als Kirche, Gemeindehaus und Küsterhaus abgerissen wurden. Dabei hatte wieder Ehepaar Mosch geholfen und ihnen ein leer stehendes Haus auf ihrem Wohngrundstück zur Verfügung gestellt, ehe Hannelore Tumbarinu mit ihrer Familie in das noch nicht fertiggestellte neue Kirchengebäude am Grohner Markt einziehen konnte. Dort hatte sie als Küsterin bis zur Weihe des neuen Gotteshauses am 26. September 1987 durch Bischof Josef Homeyer viel Ruhe, Kirche, Sakristei und Nebenräume einzurichten. Zwischen dem Abriss der Gebäude in der Färberstraße und Fertigstellung des neuen Gotteshauses am Grohner Markt hatte der mit Pfarrer Krzizanowski eng befreundete Pastor der evangelisch-lutherischen Nachbargemeinde St. Michaelis, Klaus Balz, den Katholiken seine Kirche für die Feier von Gottesdiensten zur Verfügung gestellt. Für Hannelore Tumbarinu eine weitere unübliche Facette in ihrem Beruf als Küsterin.

Die gute Seite des Absturzes

Bei aller Trauer um den Verlust ihres alten Gotteshauses hatte der Kirchturm-Absturz auch eine gute Seite: Ein von den Katholiken schon lange angestrebter Neubau einer Kirche hatte nun auch von Bistumsseite aus Fahrt bekommen. In weniger als fünf Jahren wurde am Grohner Markt die neue Kirche nach Plänen der Bremer Architekten Veit Heckrott und Franz G. Hopf gebaut. Heckrott hatte sich rund 15 Jahre zuvor mit Planung und Bau der katholischen Kirche St. Birgitta in Marßel einen Namen gemacht. Der Lesumer Glaskünstler Heinz Lilienthal hat die 48 Fenster der Kirche mit biblischen Motiven entworfen und hergestellt, die zumeist von Grohner Bürgern als Paten finanziert wurden und Grundlage der „Grohner Bibel“ wurden.

Nach 38 Jahren hat Hannelore Tumbarinu 2021 ihren geliebten Küsterberuf aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben und die große und nur über eine sehr hohe Treppe zu erreichende Dienstwohnung im Kirchenkomplex am Groner Markt räumen müssen. In ihrem Geburtsort Grohn hat sie eine kleinere Wohnung gefunden, wo sie noch lange einer lieb gewordenen Tradition nachgehen will: Die kunstvolle Verzierung der jährlichen Osterkerzen für die eigene und die evangelischen Nachbargemeinden.

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Angst und Sorge vor Fake-News

Der donnernde Aufschlag des Grohner Kirchturms auf dem Boden neben der Kirche und das Anrücken von Polizei und Feuerwehr war natürlich in der näheren Umgebung des Grohner Gotteshauses nicht verborgen geblieben. Neben Schaulustigen verfolgten vor allem hunderte Bewohner der Grohner Düne von ihren Fenstern und Balkonen das Szenario in den dunklen Abendstunden. Für Pfarrer Krzizanowski Anlass zur Sorge und Angst vor Legendenbildung – heute Fake-News genannt. So rief er noch am Abend den Redaktionsleiter dieser Zeitung zu Hause an mit der Bitte und Frage, ob es möglich sei, aktuell eine Meldung in die Zeitung zu bekommen.

Der Redaktionsleiter stoppte die Produktion der ersten Seite im Bremer Pressehaus, verfasste eilends eine 20-Zeilen-Meldung, diktierte diese per Telefon einer Kollegin am Umbruch-Tisch, die daraus ein ordentliches Manuskript tippte und dieses an die Blei-Setzmaschinen gab. So konnten schon wenige Stunden später die Leserinnen und Leser erfahren, was sich am Vorabend auf dem Grohner Kirchplatz tatsächlich abgespielt hat und vor allem, dass keine Menschen zu Schaden gekommen waren. Wohlgemerkt: am 1. Februar 1983. (wz)

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