Die Lok liegt völlig ramponiert auf der Seite. Waggons, die ebenfalls zu kippen drohen, wurden mit Pfählen gestützt. Mehr als ein Dutzend Männer in Hüten und Gehröcken betrachten das Szenario. Im Himmel über dem Katastrophenfoto eine handschriftliche Notiz in drei Zeilen. Was wollte der unbekannte Verfasser oder die Verfasserin sagen? Mit dieser Frage und der Fotokopie einer alten Postkarte war Herbert Knapp ins Kulturhaus Walle gekommen. Das Geschichtskontor des Brodelpotts hatte zur ersten „Sütterlin-Stunde“ eingeladen. Geschichtskontor-Leiterin Angela Piplak und Historiker André Brumshagen boten ihre Hilfe beim Entschlüsseln uralter Botschaften an.
Es sei kein Foto mit familiärem Bezug, erklärt Herbert Knapp: Das Bild zeige den Eisenbahnunfall von Herbolzheim. „Finden Sie im Internet“, sagt der 77-Jährige. Und tatsächlich, dort steht es: Am 2. Dezember 1903 war am Bahnhof Herbolzheim ein Schnellzug in eine Rangier-Lok gerast. Die Lok entgleiste, und Wagen stürzten die Böschung hinab. Dabei kam ein Heizer ums Leben. Über dem Eintrag: das identische Foto mit der Beschriftung. Die persönliche Verbindung bestehe allein darin, dass der Sohn in der Nähe des historischen Unfallorts wohne, und den Vater gebeten habe, bei der Entzifferung zu helfen. „In der Schule haben wir in den ersten Jahren Sütterlin gelernt, und meine Mutter schrieb ihr Leben lang ihre Einkaufszettel in Sütterlin“, berichtet der Waller. „Das hier kann ich nicht lesen. Aber ich bin neugierig darauf, was da geschrieben steht.“
So wie ihm gehe es vielen, weiß Angela Piplak. „Immer weniger Menschen können die Handschriften aus der Zeit ihrer Großeltern und Urgroßeltern entziffern.“ Oft kämen daher Besucherinnen und Besucher ins Haus, die sich im Geschichtskontor Aufklärung erhoffen. Weil der Bedarf offensichtlich groß sei, im Alltag oftmals die Zeit fehle, sich um die Anliegen zu kümmern, wurde das neue offene Angebot geschaffen. An zwei Nachmittagen im Monat können künftig Urkunden, Briefe und Postkarten, vielleicht auch das handschriftliche Rezeptbuch der Uroma vorbeigebracht werden.
Dann wird auch immer André Brumshagen vor Ort sein, der als promovierter Historiker sehr gut belesen in alten Schriften ist. „Das gehört zum Handwerkszeug in der Geschichtswissenschaft“, sagt er. Der Titel „Sütterlin-Stunde“ dient dabei als Hilfsbegriff. Die vereinfachte Schreibschrift war etwa 30 Jahre lang Standard in deutschen Schulen, bevor die Nationalsozialisten sie wieder abschafften. Der korrekte Oberbegriff wäre vielmehr Kurrentschriften, erklärt der Historiker: So nennt man die Schreibschriften, die sich im Laufe der Zeit so sehr veränderten, dass sie der heutigen Leserschaft mittlerweile fremd und rätselhaft seien.
Angelika und Heinz Mindermann beschäftigt ein Familiengeheimnis. Das kleine Etui mit dem Brief ihres Urgroßvaters aus dem Jahr 1907 war erst vor Kurzem in dem Besitz der Wallerin gelangt – und mit ihm die Information, dass der Vorfahr Bremen verlassen und den Kontakt zu seiner Familie jahrelang abgebrochen hatte. „Das wusste ich früher nicht, und jetzt ist niemand mehr da, den ich fragen könnte“, erklärt Angelika Mindermann. Doch auch die Übersetzung des vergilbten Briefes aus Boppard brachte keine Erhellung über die persönlichen Motive. Der Urahn berichtet von Bauarbeiten. „Schade“, sagt sie, „aber nun weiß ich zumindest, was da geschrieben steht.“ Charlotte Bergner war wegen eines einzigen Wortes in den Brodelpott gekommen: Die unleserliche Ortsangabe auf einem Brief aus dem Januar 1945 bereitete ihr Kopfzerbrechen, obwohl sie an sich sehr versiert im Lesen und Schreiben alter Schriften sei, erzählt die Wallerin. „Ich interessiere mich sehr dafür. In Zeiten von Computertastaturen geht das Schreiben per Hand ja immer mehr verloren.“
Garantiert nicht Sütterlin waren die Seiten des Büchleins, die Rosemarie Schwertfeger zu gerne lesen würde: Die ersten Einträge stammen aus dem Jahr 1857. Die Oslebshauserin hatte die kostbare Kladde aus der evangelischen Kirchengemeinde Gröpelingen/Oslebshausen mitgebracht: „Das sind die Jahresberichte der Pastoren“, erklärt Schwertfeger, die sich in der Geschichtsgruppe der Gemeinde engagiert. Vor allem die ersten Seiten, in denen die frühen Pastoren in winziger, gestochen scharfer Schrift vom Gemeindeleben erzählen, wären bestimmt von höchstem Interesse, vermutet sie. „Aber niemand von uns kann das lesen. Selbst unsere älteren Gemeindemitglieder winken ab.“
ine spontane Vor Ort-Übersetzung hatte sie im Brodelpott nicht erwartet, so Schwertfeger: „Da sitzt man wirklich lange dran.“ Sie erhoffte sich vielmehr einen guten Tipp. „Die Gemeinde sucht dringend jemanden, der sich zutraut, die Seiten zu transkribieren. Denn das Buch ist ein echter Schatz, ein Stück Geschichte.“
Nicht immer jedoch verbergen sich wichtige Botschaften in den kryptischen Texten, wie Herbert Knapp nun seinem Sohn berichten kann. Buchstabe für Buchstabe hatte er mit Unterstützung von Historiker Brumshagen die Zeilen über dem Foto des Herbolzheimer Bahnglücks dechiffriert. „Das ist eine richtige Klaue“, erklärt Knapp. Der Verfasser oder die Verfasserin würde sich garantiert wundern, warum die eilig hingekritzelte Notiz, dass der Regenschirm im Wartesaal vergessen wurde, nach so langer Zeit noch für solch großes Interesse sorgen würde. Der Waller war dennoch hochzufrieden mit seinem Besuch. „Zu wissen, was da steht, hat mich einfach gereizt.“