Während bei den meisten Mädchen und Jungen die Freude über die Sommerferien überwiegt, kann für einige von ihnen diese Zeit eine dramatische Wendung nach sich ziehen: Zwangsverheiratungen während des Urlaubs in den Herkunftsländern sind in Familien keine Seltenheit, in denen Frauenrechte eine untergeordnete Rolle spielen und patriarchalische Strukturen vorherrschen. In Berlin wurden vor Beginn der Ferien zusammen mit der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes und der Polizei an einigen Schulen Sensibilisierungsworkshops angeboten. Fälle von Zwangsverheiratungen sind auch der Polizei in Bremen bekannt.
Was versteht man unter Zwangsheirat?
Von einer Zwangsheirat spricht man, wenn eine Person gegen ihren Willen verheiratet wird, indem etwa körperliche oder psychische Gewalt zum Einsatz kommt. Im Gegensatz zur Zwangsheirat wird eine arrangierte Heirat zum Beispiel von Verwandten vereinbart, aber Braut und Bräutigam stimmen dem zu. Die Grenzen sind meist fließend. In Deutschland ist es eine Straftat, jemanden zur Heirat zu zwingen oder durch Täuschung oder Gewaltandrohung in ein anderes Land zu bringen und dort zur Heirat zu zwingen. Jugendliche dürfen nach deutschem Recht nicht heiraten, beide Partner müssen volljährig sein. War jemand bei der Hochzeit jünger als 16, ist die Ehe automatisch unwirksam. Wer zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen 16 und 18 Jahren alt ist, muss mit der Aufhebung des Bündnisses rechnen.
Häufen sich vor den Sommerferien die Beratungsanfragen?
In Bremen gibt es keine gesonderte Beratungsstelle, die sich ausschließlich mit dem Thema Zwangsheirat befasst. Junge Frauen und Männer können sich unter anderem an das Mädchenhaus oder das Jungenbüro wenden, wobei junge Männer eher die Ausnahme sind. Beim Mädchenhaus haben die Anfragen vor dem Start der Sommerferien zugenommen. Mindestens acht Fälle sind nach Angaben bei den Mitarbeiterinnen aufgelaufen. Dabei habe nicht immer unmittelbar eine Zwangsverheiratung im Herkunftsland gedroht. Meist würden sich Schulsozialarbeiter, Fallmanager des Jugendamtes oder die Mädchen selbst Sorgen machen über Tendenzen und Strukturen in der Familie, die im schlimmsten Fall zu einer Zwangsehe führen könnten. „Da geht es beispielsweise auch darum, dass junge Mädchen während der Sommerferien überhaupt nicht nach draußen dürfen“, sagt Bianca Gerdes, die als Psychotherapeutin beim Mädchenhaus arbeitet.
Sind in Bremen konkrete Fälle von Zwangsheirat bekannt?
In der polizeilichen Kriminalstatistik aus dem vergangenen Jahr sind fünf Fälle von versuchter und erfolgter Zwangsverheiratung aufgeführt, die betroffenen Frauen waren zu dem Zeitpunkt zwischen 14 und 21 Jahre alt. Nach Angaben der Bremer Polizei gibt es in einem Fall einen möglichen Zusammenhang mit dem Ende des Schuljahres. In den Jahren davor wurden, wenn überhaupt, Fälle im niedrigen einstelligen Bereich erfasst. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist. Zwangsverheiratung gibt es nach Angaben von Fachstellen in christlichen, islamischen, hinduistischen, jesidischen und buddhistischen Gesellschaften. In einigen Fällen werde die Religion dazu benutzt, Traditionen zu rechtfertigen. Für Aufsehen sorgte in Bremen 2018 eine Hochzeit in Oslebshausen, bei der die muslimische Braut 15 Jahre alt gewesen sein soll.
Welche Möglichkeiten haben gefährdete Mädchen?
Mit dem Start der Sommerferien fällt die Schule als ein wichtiger Schutzraum für Jugendliche weg. Wer sich selbst unsicher über seine Lage ist und in den Heimaturlaub fährt, dem rät das Mädchenhaus, Telefonnummern von Beratungsstellen mitzunehmen. „Gut ist es auch immer, wenn jemand Bescheid weiß, der notfalls aktiv werden kann, wenn man nicht zurückkehrt“, sagt Gerdes. Wer in der Lage dazu ist, sollte zudem möglichst darauf achten, seine Papiere selbst bei sich zu haben oder die Adresse der deutschen Botschaft im Ausland zu kennen.
Wie gehen Schulen mit dem Problem um?
In Bremen hat es nach Angaben der Bildungsbehörde bisher keine ähnlich gelagerten Workshops wie in Berlin gegeben. Lehrkräfte und Schulleitungen könnten sich bei Bedarf an die Schulaufsicht wenden. Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten von gesellschaftlichen Organisationen und freien Trägern würden weitergegeben, um im Einzelfall zu unterstützen.
Wie sehen die Beratungsangebote in Bremen aus?
Im Landesaktionsplan zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt wurden Anfang 2022 Maßnahmen wie Fortbildungen in Bildungseinrichtungen und Behörden, Sensibilisierungsprojekte, Öffentlichkeitskampagnen und Infoflyer zum Thema Zwangsheirat angeregt. Vieles davon ist bisher noch nicht umgesetzt. Die Maßnahmen sollen Schritt für Schritt in Angriff genommen werden, kündigt Bettina Wilhelm an, Bremens Landesfrauenbeauftragte.