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Festspiele vor Ort betrachtet Wenn sich Bayreuth auf die Schippe nimmt

Es gab noch Karten für die Bayreuther Festspiele – da schlugen Kulturfreunde schon Alarm. Vor Ort zeigte sich dann: Es ist wie immer. Und am besten, wenn sich die Wagner-Fans auf die Schippe nehmen.
22.08.2023, 20:00 Uhr
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Von Sebastian Loskant

Stell dir vor, es ist Festival, und keiner geht hin. War das eine Aufregung, als sich Mitte Juli herausstellte, dass es noch für alle 31 Vorstellungen der sonst überbuchten Bayreuther Festspiele Restkarten gab. Für junge Leute sogar zum Schnäppchenpreis. Das Ganze entpuppte sich als Folge einer Buchungspanne, doch einige Kulturfreunde sahen schon den Untergang des Abendlandes gekommen. Steigende Preise und moderne Inszenierungen: Da musste das Publikum ja streiken. Die ältesten Opernfestspiele der Welt – am Abgrund? Ihr Erfinder Richard Wagner – reif für die Mottenkiste?

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Vor Ort sah jedoch alles viel entspannter aus. Da war wie gewohnt jeder der 1974 Plätze im Festspielhaus besetzt, flanierten aufgebrezelte Damen neben Herren in Stöckelschuhen und Schülern in Turnhose. Im preiswerten Biergarten „Mohren Bräu“ am Festspielhaus kam man wie eh und je ins Pausengespräch, mit dem Schweizer Pensionär ebenso wie mit den jungen Kulturstipendiaten der Richard-Wagner-Verbände, die kostenlos drei Vorstellungen besuchten. Der konservative Gynäkologe aus Berlin lobte den neuen „Parsifal“, den wiederum der staatsopernerfahrende Wiener Physikstudent für strunzlangweilig hielt. Und mittendrin saß eine Bayreuther Familie, deren Papa verkündete: „Ich würde mir eine Oper nur ansehen, wenn die Inszenierung 70 Jahre alt ist.“

Tristan im Raumschiff

Bei aller Liebe zur Werktreue, besser nicht. Wo Bayreuth die Traditionalisten bediente, ging schnell das Sandmännchen um. Etwa beim biederen "Tristan", den Roland Schwab in Raumschiff-Enterprise-Optik gestaltete. Die ovalen Strudel-Projektionen nutzten sich bald ab, Dirigent Markus Poschner kam erst spät in Fahrt, und Tenor Clay Hilley tapste daher wie der Bärenmarke-Teddy. Dass Hausherrin Katharina Wagner die erst ein Jahr alte Inszenierung absetzen wird, ist zu begrüßen.

Keineswegs spannender fiel ihr Prestigeobjekt aus, der "Parsifal". Musikalisch untadelig, sah das Bühnenweihfestspiel so tranig fromm aus wie ein Bibelfilm. Fehlte nur noch Charlton Heston als Moses, um den Schwanenteich zu teilen. Von den viel diskutierten 330 AR-Brillen sah man in der vierten Aufführung wenig. Es hatte sich herumgesprochen, dass Regisseur Jay Scheib das Raumerlebnis vor allem für Gimmicks wie fliegende Totenschädel nutzte. Da die Brillen überdies 40 Euro Aufschlag kosteten und vorher eine Anpassung erforderten, verzichteten viele Besucher auf die zweifelhafte virtuelle Bereicherung.

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So betulich Bayreuth hier im Streben nach Modernität wirkte, so faszinierend aktuell erwies es sich indes dort, wo es den romantischen Schwulst des Wagnerschen Werks keck hinterfragte. Warum sollen ständig Frauen für die Sünden der Männer büßen? Muss Senta immer über die Klippe springen, um den Fliegenden Holländer zu erlösen? Regisseur Dmitri Tcherniakov erlöste lieber die Welt von dem Schwerenöter, der alle sieben Jahre eine neue Gattin ins Unglück stürzt. Hier kehrte ein Außenseiter mit seiner Gang ins Heimatdorf zurück, um aus Rache die rebellische Tochter eines miesen Kaufmanns zu heiraten, und wurde am Ende von der alten Gemeindechorleiterin erschossen. Bei diesem Opernkrimi, den die Ukrainerin Oksana Lyniv – Bayreuths er­ste Dirigentin überhaupt – frisch durchleuchtete, saß das Publikum auf der Stuhlkante.

Lachen beim Opernbesuch

Ebenso hinreißend originell – als Roadmovie einer Gauklertruppe im Wohnmobil – erzählte Hamburgs künftiger Staatsopernintendant Tobias Kratzer den "Tannhäuser": Selten ist bei Wagner so viel gelacht worden. Im Film verfolgten eine Helene-Fischer-Venus, eine schwarze Dragqueen und Blechtrommler Oskar den abtrünnigen Tannhäuser-Clown zum Sängerkrieg ins Festspielhaus. Bis auf die Bühne, nun live. Bis Katharina Wagner die Polizei rief.

Die Videoprojektionen, die auch hinter die Kulissen führten, waren das Tüpfelchen auf dem i. Das Publikum erkannte sich schmunzelnd wieder – und fand in den Pausen das olle Wohnmobil draußen im Park und eine Leiter am Außenbalkon vor. Dichter an der Haustür kann Oper nicht sein. Erneut sorgte eine Dirigentin – Nathalie Stutzmann – für Jubelstürme.

Frauenpower, gut erzählte Geschichten, günstige Karten für junge Zuschauer und ein guter Schuss Selbstironie: Mit diesem Rezept haben die Bayreuther Festspiele unbedingt eine Zukunft.

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