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Leyla Imret beim Loccumer Kreis „Bürgermeisterin bin ich noch immer“

Sie wuchs in Osterholz-Scharmbeck auf, wurde 2014 zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt, wurde abgesetzt und verfolgt, musste untertauchen: Leyla Imret berichtet am 15. November im Loccumer Kreis.
07.11.2018, 16:17 Uhr
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Von Michael Schön

Osterholz-Scharmbeck. Leyla Imret ist klein und zierlich, wirkt aber nicht zerbrechlich und entpuppt sich als starke Persönlichkeit. Die Frisur, helle Strähnen im langen dunklen Haar, ist dieselbe wie 2014, als die jetzt 31 Jahre alte Osterholz-Scharmbeckerin in der überwiegend kurdisch besiedelten 140 000-Einwohnerstadt Cizre zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt wurde.

Dass sie ihr Aussehen nicht verändert hat, ist ein starker äußerlicher Beleg für ihre Unbeugsamkeit und den Willen, nach Amtsenthebung und Flucht vor der Repression Ankaras ihre politischen Ambitionen unbeirrt weiterzuverfolgen. Sie scheut die Öffentlichkeit nicht. Leyla Imret hat inzwischen in Deutschland einen positiven Asylbescheid bekommen. „Hundertprozentig sicher fühle ich mich aber nicht“, sagt sie. Trotzdem oder gerade deswegen wird sie am Donnerstag, 15. November, im Loccumer Kreis ihre Geschichte erzählen, die eine Geschichte von Flucht und Gewalt, von Aufstieg und Fall ist.

Das Schicksal einer Hoffnungsträgerin der prokurdischen Partei HDP hat große mediale Aufmerksamkeit erregt. Die oft erzählte Geschichte geht so: Eine junge Friseurin, Tochter eines im Kampf gegen die staatlichen Unterdrücker umgekommenen Aktivisten, gewinnt nach einer in Deutschland verbrachten Kindheit die Herzen der Menschen in einer Stadt am Tigris, die als Hochburg der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) gilt. Das Wiederaufflammen des Bürgerkriegs bringt Ausnahmezustand, Terror und Militäraktionen nach Südostanatolien. Kurdische Quellen sprechen von Massakern. Leyla Imret wird des Amtes enthoben, mehrmals festgesetzt und wieder freigelassen, ehe sie in den Irak flüchtet. Es gibt einen Dokumentarfilm über ihr Schicksal, den die Berliner Regisseurin Asli Özarslan gedreht hat. Er trägt den Titel „Dil Leyla“.

Leyla Imret will den Zuhörern im Loccumer Kreis aber nicht nur von ihrem ersten guten Jahr als Bürgermeisterin von Cizre erzählen – Fotos zeigen sie beim Bad in einer begeisterten Menge –, und von den dunklen Tagen in der Untersuchungshaft, sondern auch berichten, wie es ihr jetzt geht und wie sie ihre Zukunft sieht. Leyla Imret holt gerade das Abitur nach. Sie möchte Politikwissenschaften studieren, was schon immer ihr Wunsch gewesen war.

Sie war vier Jahre alt, als sie nach dem gewaltsamen Tod des Vaters zu den in Osterholz-Scharmbeck lebenden Verwandten geschickt wurde, während die Mutter und zwei Geschwister in der Türkei blieben. „Weil mir mit 18 die Abschiebung drohte, habe ich die Schule abgebrochen und eine Ausbildung zur Friseurin begonnen.“ Denn die Familie in der Türkei sei ihr fremd gewesen. Tatsächlich wurde die Abschiebung auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, aber Leyla Imret fühlte sich „allmählich unerwünscht“ in Deutschland, obwohl dort „stark integriert“. 2010 gab es ein erstes Wiedersehen mit der Mutter. Die Rückkehr nach Kurdistan bahnte sich an.

Leyla Imret ist heute eine der beiden Deutschland-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker, auf Türkisch Halklarin Demokratik Partisi, kurz HDP. Zusammen mit ihrem Co-Parteichef Sinan Önal hat sie in Berlin die neue Vertretung der Partei in der Bundeshauptstadt eröffnet. Sie ist gewissermaßen eine Botschafterin der türkischen Opposition, in dieser Rolle in ganz Europa unterwegs, geht zu Filmfestivals und führt Gespräche mit den Bundestagsabgeordneten. Mit Grünen, Linken und Sozialdemokraten gibt es Patenschaften.

Wiederholt war sie Gast beim Europäischen Parlament in Straßburg. Sie betont, dass sie noch immer die gewählte Bürgermeisterin von Cizre sei. Im Rahmen der Zwangsverwaltung wurde sie 2016 aus dem Amt vertrieben. Dagegen will sie notfalls vor dem Europäischen Gerichtshof vorgehen. Ihre Amtszeit endet freilich am 31. März 2019.

Sie würde gerne erneut kandidieren, doch dazu müsste sie in die nach Medienberichten total zerstörte Geisterstadt reisen. Geht nicht, denn der Festnahmebefehl wegen angeblicher Propaganda in einem Interview, das eine englische Tageszeitung mit ihr führte, hat nach wie vor Gültigkeit. „Ich wüsste nicht, ob und wann ich wieder rauskäme.“ Außerdem wurde ihr vorgeworfen, während der Unruhen in Cizre Widerständlern geholfen zu haben. Sie bestreitet das. Die HDP ist eine linksgerichtete Partei, die von der türkischen Regierung verdächtigt wird, mit der PKK zu sympathisieren, die wiederum auch in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuft wird.

Cizre ist für die Zentrale in Ankara ein Widerstandsnest. Ihre Familie habe immer für die kurdische Sache gestritten, sagt Leyla Imret. Ihr Vater, der das 1992 mit dem Leben bezahlte, genoss in Cizre hohes Ansehen, was nach Meinung der Tochter dazu beigetragen hat, dass sie 2014 mit einer Stimmenmehrheit von 83 Prozent zur Verwaltungschefin gewählt wurde. „Die Menschen haben es auch geschätzt, dass ich in Deutschland ein gutes Leben hinter mir gelassen hatte, um zu meinen Wurzeln zurückzukehren.“ Türkisch beherrschte sie damals nicht, aber Kurmandschi, das von den meisten Kurden gesprochen wird und das sie in der Schule zu erlernen Gelegenheit hatte.

Leyla Imret wurde nach eigenen Angaben insgesamt vier Mal in Gewahrsam genommen, um dreimal nach den Haftprüfungsterminen wieder auf freien Fuß zu kommen, beim letzten Mal aber erst nach vier Tagen Untersuchungshaft. Sie selbst habe dabei keinen physischen Schaden genommen, versichert sie, aber die Schmerzensschreie der in anderen Zellen offenbar gefolterten Häftlinge vernommen. „Das verfolgt mich noch heute, wie die Bilder von den vielen Toten im brennenden Cizre und von den vermummten Spezialkräften auf den Straßen. Es raubt mir den Schlaf.“

Einem weiteren Festnahmebefehl entzog sie sich, indem sie sich in den nahen Irak absetzte und dort untertauchte. Aus Furcht vor türkischen Häschern habe sie jeden Kontakt sogar mit den Angehörigen vermieden. In Osterholz-Scharmbeck galt sie als verschollen. Stadt- und Kreispolitiker, die sie in türkischer Haft wähnten oder sogar Schlimmeres befürchteten, verabschiedeten Resolutionen.

Leyla Imret hat keine Angst, ist aber vorsichtig, denn sie sieht sich weiter in Gefahr. Das Regime in Ankara hat einen langen Arm. Sie vertraut darauf, dass der deutsche Rechtsstaat sie schützt, aber sie ist enttäuscht von der Bundesregierung, die dem von Recep Tayyip Erdogans forcierten Kurs hin zur Autokratie zu wenig entgegensetze. „Heiko Maas war gerade in der Türkei, hat aber die Gelegenheit verstreichen verlassen, mit der HDP zu sprechen, die immerhin die drittgrößte türkische Partei ist", bedauert Imret.

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