„Ja!“ – Jan Tholen triumphiert. Der Handball-Torwart der HSG Schwanewede/Neuenkirchen hat eine Leuchtdiode auf einer Elektroniktafel gerade noch rechtzeitig mit dem Zeigefinger erwischt, bevor sie wieder erlischt. Leicht ist das nicht, denn die Dioden blitzen quer über die Tafel verteilt nur für den Bruchteil einer Sekunde wahllos auf. Erschwerend kommt hinzu, dass der Schlussmann eine Rot-Grüne-Brille trägt, die je Durchgang mal das linke und mal das rechte Auge dominanter sehen lässt. „Ein bisschen schlecht ist mir nach diesen Durchgängen schon“, gesteht Tholen.
43 Treffer zeigt die Tafel nach einem seiner 60 Sekunden dauernden Durchgänge an, Tholen liegt damit fast exakt im Schnitt seines Teams. Die Spanne der HSG-Spieler geht von sieben bis 53 Treffer – der Test lässt Rückschlüsse auf die Reaktionszeit und das periphere Sehen zu.
Funktionaloptometrie ist das besondere Thema dieses Trainings, das die Verbandsliga-Männer der „Schwäne“ durchlaufen. Hierbei werden die Augenfunktionen in einem Parcours auf vielfältige Art und Weise von Maren Huckschlag und Alexandra Römer überprüft. „Unser ganzer Bewegungsapparat ist vom Auge abhängig. Je schneller wir einen Impuls von dort ins Gehirn bekommen, desto schneller können wir reagieren“, klärt Augenoptikermeisterin Huckschlag auf. Wie wichtig das Sehen im Sport sein kann, zeigt das Beispiel des Tischtennis-Profis Timo Boll. Der behauptet, dass er am Werbeaufdruck des Tischtennisballes erkennen kann, welchen Drall der Ball hat und wie schnell der wohin fliegt.
Eine spezielle Augenuntersuchung, unter anderem am Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung der Ruhr-Universität Bochum, bescheinigte ihm herausragende Sehfähigkeiten. Boll zählt im Alter von 41 Jahren immer noch zur Weltspitze. Im Handball muss der ballführende Spieler innerhalb von kürzester Zeit die Bewegungen seiner Mit- und Gegenspieler kontrollieren und vorausahnen, daraufhin seine eigenen Bewegungen steuern und die Entfernung zum Tor möglichst gut abschätzen.
„Die Neuroathletik ist eine Riesenlücke im Sport“, ist Tizian von Lien, seit kurzem Chef-Trainer des Verbandsligisten aus Schwanewede/Neuenkirchen, überzeugt. Deshalb starten die „Sahneschnitten“ mit dem Grundscreening, bei dem die jeweiligen Stärken und Schwächen der Spieler ermittelt werden sollen. Das geschieht an mehreren Stationen, zum Beispiel mit der Prismen-Brille, die den Raum um 30 Prismen-Dioptrin verschiebt. Nicht von ungefähr wird sie schnell „Malle-Brille“ genannt.
„Das ist so, als ob man nach einem Centstück auf dem Boden eines Brunnens greifen will“, klärt der Rechtsaußen Timon Winter auf. Er soll aber keine Gelder einsammeln, sondern „einfach“ nur auf einem Schaumstoffbalken geradeaus gehen, auch wenn ihm die Brille eine gekrümmte Wegstrecke vorgaukelt. Nach einem Gewöhnungslauf müssen während der nächsten Durchgänge zusätzlich Fragen beantwortet werden – schon wird die Aktion zum Balance-Akt, der den einen oder anderen auch aus dem Tritt bringt. „Hieran kann man erkennen, wer sich an neue Situationen anpassen kann“, erklärt Maren Huckschlag.
Der HSG-Teammanager Henning Schomann hatte sie darum gebeten, das Augenscreening einmal an seiner Mannschaft vorzunehmen. Der Auslöser war Schomanns Vermutung, dass einer seiner Spieler Sehprobleme haben könnte. Als er den Tipp bekam, dass Maren Huckschlag noch wesentlich umfassendere Untersuchungen mit Optimierungsvorschlägen anbietet, griff er zum Telefon. „Wenn einige Spieler nicht aus eigenem Antrieb zum Augenoptiker gehen, dann muss man ihn eben auch mal zum Training holen“, sagt Henning Schomann. „Ich erhoffe mir vom Ganzen eine Leistungssteigerung der Spieler und des Teams.“
Tim Paltinat wirkt normalerweise tiefenentspannt, die 3D-Station fordert aber auch ihn. Er muss mit einer Spezialbrille erkennen, welches der auf einer Leinwand vor ihm gezeigten dreidimensionalen Gegenstände hervorsticht. Da er währenddessen auf einem Fitness-Trampolin hüpfen muss, kommt zur geforderten Tiefenwahrnehmung der körperliche Stressfaktor hinzu. „Durch die eigene Bewegung ist es schwer, den richtigen Gegenstand zu erkennen“, verrät Paltinat – diese Station macht einigen zu schaffen.
Die Shutterbrille bereitet den Spielern weniger Probleme, auch wenn der permanent schnelle Hell-Dunkel-Wechsel zu Sichteinschränkungen führt. Rechtsaußen Niklas Bachmann fängt das auf einen Rebounder geworfene Sandsäckchen und wirft es bei vier von fünf Würfen exakt in ein aufgeklebtes Zielfeld. Augenuntersuchungen, Sehschärfe- und Kontrast-Sehtests folgen.
Maren Huckschlag wird die Ergebnisse auswerten und mit dem Trainerteam besprechen. Sollte bei Spielern Optimierungsbedarf festgestellt werden, dann kann dieser von speziellen Übungen bezüglich des dynamischen, peripheren und des räumlichen Sehens bis hin zu Maßnahmen bei Fehlsichtigkeit reichen. „Die vorgeschlagenen Übungen sollten mit ins Training einfließen, damit sie regelmäßig gemacht werden“, betont Huckschlag. „Sie in die Eigenverantwortung der Spieler zu übergeben, hat sich nach den bisherigen Erfahrungen als schwierig erwiesen.“