Ursprünglich wollte Benjamin Netanjahu am Mittwoch bei Joe Bidens Demokratie-Gipfel in der amerikanischen Hauptstadt auftreten. Angesichts der massiven Proteste in Israel gegen die geplante Justizreform der rechts-religiösen Regierung hat „Bibi“ seine Reise abgesagt. Stattdessen nahm er eine Videoansprache auf, die er bereits nach Washington übermittelte.
Der ehemalige Exekutiv-Direktor des American Jewish Congress, Joel Rubin, drängt wie andere Kritiker in den USA nun darauf, Netanjahu vom Programm zu streichen. „Das wäre ein demoralisierendes Signal an die israelische Öffentlichkeit, die seit Monaten für ihre Demokratie demonstriert.“
Das Weiße Haus überlässt es öffentlich Netanjahu, selbst zu entscheiden, ob es bei dem Videoauftritt bleibt. Dennoch ließ die US-Regierung in ungewöhnlicher Deutlichkeit wissen, dass sie „tief besorgt“ sei über die Pläne der Rechtskoalition, die Unabhängigkeit der Justiz in Israel zu untergraben.
USA: Israels Reputation steht auf dem Spiel
Dass der US-Präsident Tacheles mit Netanjahu gesprochen hat, geht aus einer Stellungnahme des Weißen Hauses zur Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant hervor. Darin wird hervorgehoben, dass Biden in einem Telefonat an die gemeinsamen demokratischen Werte „als besonderes Kennzeichen der US-israelischen Beziehungen“ erinnerte. Änderungen in der demokratischen Ordnung müssten stets „mit der breitesten Basis an öffentlicher Unterstützung vorgenommen werden“.
Nachdem Netanjahu am Montag vorläufig den Pausenknopf für die Reform gedrückt hatte, zeigte sich die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, befriedigt. „Wir drängen die israelischen Führer weiterhin dazu, so schnell wie möglich einen Kompromiss zu finden.“
Auch der ehemalige US-Botschafter in Israel, Dan Shapiro, wertet den Ton der öffentlichen Stellungnahmen der US-Regierung als Hinweis darauf, dass „hinter den Kulissen Klartext gesprochen wurde“. Aus dem Umfeld des Weißen Hauses heißt es, man habe Netanjahu klargemacht, dass die Reputation Israels als einzige Demokratie im Nahen Osten auf dem Spiel stehe.
US-Präsident Joe Biden hält sich alle Möglichkeiten offen
Den Ausschlag gaben nach Einschätzung von US-Analysten am Ende vorwiegend sicherheitspolitische Überlegungen. Angesichts der Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran sowie den Fortschritten Teherans bei seinem Atomprogramm könne Netanjahu gegenüber den ultraorthodoxen Koalitionspartnern argumentieren, dass sich Israel einen Rückzug der USA wegen der Justizreform nicht leisten könne.
Nach dem Einlenken Netanjahus signalisierte das Weiße Haus Bereitschaft, den israelischen Regierungschef zu „einem späteren Zeitpunkt“ in Washington willkommen zu heißen. Abhängig vom weiteren Taktieren Netanjahus hält sich Biden offen, die Einladung wieder zurückzuziehen.
Beobachter wie der Kolumnist David Ignatius von der „Washington Post“ werten das als Zeichen für die Skepsis gegenüber dem Regierungschef, der sich mit der Justizreform zwischen alle Stühle gesetzt hat. Netanjahu könne nun auf die eine oder andere Weise die Macht verlieren. Entweder seine wacklige Koalition mit den Religiösen zerbricht oder die israelische Gesellschaft.