Der Lauf der Waffe richtet sich auf eine Leinwand, auf die Schwarz-Weiß-Aufnahmen geworfen werden von jenen Schlachtfeldern, wo geschossen und gestorben und gelitten wurde. Fast schwebt die Pistole leicht und luftig im Ausstellungsraum, wo mit ihr doch so Schweres und Schlimmes angerichtet und vor allem ausgelöst wurde. Der bosnische Serbe Gavrilo Princip tötete damit am 28. Juni 1914 in Sarajevo den Thronfolger von Österreich-Ungarn, Erzherzog Franz Ferdinand, und dessen Frau. Das Attentat stürzte den Kontinent in den Ersten Weltkrieg – und führte zur Selbstzerstörung des alten Europas.
Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war ein Wendepunkt, den das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel mit dem Exponat in den Fokus rückt. „Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben, das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns“, wird nur wenige Schritte entfernt Ernst Jünger aus dem Jahr 1920 in einem Wortwirbel zitiert. Die 25 Meter hohe Skulptur spiegelt die Idee der „Einheit in Vielfalt“ wider und zieht sich wie ein roter Faden durch die Stockwerke. Die Zitate wachsen gleichsam in die Ausstellungsbereiche hinein. „Was Europa zusammenhält und was es trennt, ist ... das gemeinsame Gedächtnis ...“, stehen da etwa die Worte des Schweizer Dichters Adolph Muschg von 2003 geschrieben oder der Satz des Italieners Umberto Eco „Die Sprache Europas ist die Übersetzung“ aus dem Jahr 1993 wie auch der von etwa 1968 stammende Slogan „Das Private ist politisch“.
Das Museum in der EU-Hauptstadt ist so etwas wie ein Hort des europäischen Gedächtnisses mit all seinen Erfahrungen, Interpretationen, Widersprüchen. Was ist Europa? Wie ist aus der gemeinsamen Geschichte eine kulturelle Erinnerung erwachsen und wie bestimmt sie unser Leben? Die Fragen ziehen sich durch die chronologisch aufgebaute Schau vom 19. Jahrhundert bis in die Zukunft im symbolischen 7. Stock. Antworten dürfte es so viele geben, wie es Besucher in die Villa zieht, eine ehemalige Zahnklinik im Parc Léopold inmitten des Europaviertels.
Der Kontinent war weder geografisch noch politisch vordefiniert, wurde stattdessen geformt von seiner Geschichte und Kultur, von Handelsbewegungen, vom Christentum, von universitären Netzwerken. Europa, es stellt ein Produkt seiner Geschichte dar. „Das heißt aber auch, dass es nicht festgebacken ist, sondern jede Generation die Verantwortung hat, Europa weiterzuentwickeln“, sagt Hans-Gert Pöttering. Der 78-jährige CDU-Politiker hat schon viele Ämter bekleidet, darunter von 2007 bis 2009 jenes des Präsidenten des EU-Parlaments. Ein Vollblut-Europäer, wenn man so will. Das Museum war seine Idee, angetrieben von der Beliebtheit einer ähnlichen Ausstellung in Bonn zur deutschen Geschichte, eingeweiht im Mai 2017. Pöttering bezeichnet es auch heute noch als „ein kleines Wunder“, dass es das Haus gibt nach all dem Widerstand, vorneweg der Europagegner.
Nun beschreibt die Ausstellung einerseits mit Stolz, andererseits mit Scham den langen und häufig beklemmenden Weg zur Staatengemeinschaft. Dabei wird vor allem deutlich, dass der Blick auf den Kontinent stets von der Zeit und Perspektive abhängt, wie eine Karte aus Australien illustriert, die den Inselstaat ins Zentrum und den gewohnten Blick der Europäer auf die Erde buchstäblich auf den Kopf stellt.
Abstimmungsscherben aus Athen präsentieren die Demokratie, Hochöfen stehen für das Zeitalter der industriellen Revolution, in der soziale Rechte unbekannt und Ausbeutung sowie Kinderarbeit die Regel waren. Eine Zapfsäule der Firma Total weist auf die Energiekrise der 70er-Jahre hin. An dunkle Zeiten erinnern eine Lebensmittelkarte aus dem Warschauer Getto und Plakate aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie Videos von deutschen und alliierten Fliegern, die in Endlosschleife Europa in Schutt und Asche bomben. Möbelstücke aus Dänemark, Parfüms aus Frankreich und Seifen aus Frankreich erzählen derweil vom kulturellen Kontakt und Austausch.
Trotz etlicher Abgesänge auf das Projekt, etwa 2005, als die Niederländer und Franzosen bei Referenden das europäische Verfassungsprojekt abgelehnt hatten, fand die EU stets einen Weg durch die Krisen. Einer gipfelte 2007 im Vertrag von Lissabon, der den Start „in eine neue Ära der Zusammenarbeit“ einläutete. Eine andere Sternstunde feierte die Gemeinschaft 2012, als ihr der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Das Entscheidende sei, sagt Pöttering, dass sich die Union auf Recht gründe. Im Hintergrund erklingt die Hymne „Freude schöner Götterfunken“ wie der Soundtrack zum Gang durch die Historie. Der Besuch könnte fast als Motivator dienen: Europa hat viel geschafft – trotz allem