Urteil fällt am Mittwoch
Fünf Jahre Mammut-Verfahren: Der NSU-Prozess im Rückblick
Es war eine akribische, oft zähe Suche nach der Wahrheit im Münchner NSU-Prozess. Er wird in die deutsche Geschichte eingehen, nicht nur wegen der abscheulichen Taten. Der Prozess im Rückblick.
Schon bevor der Prozess startete, gab es einen Eklat. Weil das Oberlandesgericht nur begrenzten Platz hat, der Andrang der Presse aber immens ist, soll die Zahl der Akkreditierungen auf 50 begrenzt werden. Wer sich zuerst anmeldet, soll zuerst zum Zug kommen. Doch dann wird bekannt: Türkische Medien gehen leer aus, obwohl acht der zehn Mordopfer des NSU aus der Türkei stammen. Es entsteht Wut. Der Prozessbeginn wird vom 17. April auf den 6. Mai verschoben. Die Presseplätze werden letztlich verlost, für türkische Medien vier Plätze reserviert.
Daniel Naupold/dpa
Prozessauftakt am 6. Mai 2013
Der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André E., Carsten S. und Holger G. beginnt. Beate Zschäpe ist die einzige noch Lebende der Zwickauer Terrorbande, zu der auch Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gehörten. Die beiden erschossen sich im November 2011, als sie nach einem Sparkassen-Überfall in Eisenach von der Polizei entdeckt werden. Damit fliegt die Bande überhaupt erst auf. Zschäpe stellte sich kurz darauf der Polizei (die gesamte Chronologie der NSU-Verbrechen hier nachlesen).
Peter Kneffel/dpa
Worum geht es?
Um zehn Menschenleben. Genauer: Um die Morde an Enver Simsek (oben, von links), Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und der Polizistin Michele Kiesewetter, Mehmet Turgut (unten, von links), Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat.
Der 43-Jährige ist angeklagt, weil er nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft die Beschaffung der Mord-„Ceska“ organisiert haben soll. Wohlleben soll von den Morden gewusst haben und ist deshalb wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Das Bild zeigt ihn während einer NPD-Demonstration im August 2007 in Jena. Festgenommen wurde Wohlleben Ende November 2011, kurz nachdem der NSU aufflog. Wohlleben bekennt sich offen zu seiner „nationalistischen“ Gesinnung. Er war Funktionär der NPD.
Martin Schutt/dpa
Angeklagter Nr. 3: André E.
Der gelernte Maurer war seit dem Untertauchen 1998 einer der wichtigsten Vertrauten des Trios und soll die mutmaßlichen Rechtsterroristen zusammen mit seiner Frau regelmäßig besucht haben.
Die Ermittler hielten ihn zunächst für den Ersteller des Bekenner-Videos. Als Zweifel daran aufkamen, ordnete der Bundesgerichtshof im Juni seine Freilassung an. E. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.
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4. Juni 2013 - Erste Aussage des Angeklagten Carsten S.
Carsten S. ist der vierte Angeklagte. Im Juni beginnt seine Aussage. Er räumt ein, eine Waffe für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ besorgt zu haben. Er ist wie Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. S. hat kurz nach seiner Festnahme 2012 ein Geständnis abgelegt. Er wird sich im Verlauf des Prozesses reuig zeigen, vor Gericht weinen. Er gibt an, sich von der Neo-Nazi-Szene abgewendet zu haben.
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6. Juni 2013 - Erste Aussage des Angeklagten Holger G.
Holger G. gehörte zur Jenaer Kameradschaft, genau wie Wohlleben und die drei Untergetauchten. G. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt. Zwei Tage nach seiner ersten Aussage vor Gericht räumt Holger G. ein, dem NSU geholfen zu haben. G. spendete Geld, transportierte einmal eine Waffe nach Zwickau und traf sich mehrfach mit dem Trio. Der 43-Jährige beantragte auch nach eigenem Eingeständnis Ausweispapiere auf seinen Namen, aber mit Böhnhardts Passfoto. Böhnhardt verfügte so über echte Behördendokumente. G. stellte sich außerdem wiederkehrenden „Systemchecks“. So nannten die NSU-Mitglieder Treffen, bei denen sie die Lebensverhältnisse von G. abfragten und so das Wissen um Böhnhardts Tarnidentität aktualisierten.
Von Überfällen und Morden will er nichts gewusst haben.
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1. Oktober 2013 - Bewegende Aussage des Vaters von Mordopfer Ismail Yozgat
Der Vater des Mordopfers Ismail Yozgat tritt als Zeuge auf. Yozgat war am 6. April 2006 in einem Internetcafé in Kassel ermordet worden. Vor Gericht wirft sich der Vater auf den Boden, um den Moment, in dem er seinen sterbenden Sohn fand, zu beschreiben. Es sind bewegende Szenen, die um die Welt gehen. Am Tag darauf appelliert die Mutter des Mordopfers eindringlich an Zschäpe, zur Aufklärung beizutragen.
Das Bild zeigt Yozgat bei einem anderen Verhandlungstag im Jahr 2015.
Tobias Hase/dpa
16. Januar 2014: Kollege der getöteten Michèle Kiesewetter sagt aus
Der Polizist Martin A., der beinahe das elfte Todesopfer des NSU geworden wäre, sagt im Prozess als Zeuge aus. A. überlebte den Angriff trotz Schusses in den Kopf, er lag wochenlang im Koma. Der Polizist hat an die Tat jedoch keine Erinnerung.
Das Bild zeigt den Anwalt von Martin A. nach dem Ende des Prozesstages vor dem Oberlandesgericht in München.
Andreas Gebert/dpa
16. Juli 2014 - Zschäpe will neue Verteidiger
Das Hickhack um Zschäpes Verteidiger beginnt: Sie gibt an, sie habe kein Vertrauen mehr in ihre Pflichtverteidiger. Wenig später schmettert das Gericht ihren Antrag auf neue Anwälte ab.
Tobias Hase/dpa
22. September 2014 - André E. provoziert im Gerichtssaal
André E. präsentiert sich im Gerichtssaal mit einem Szeneheft mit dem Titel "White Supremacy" (Weiße Vorherrschaft). An anderen Tagen trug er ein Shirt, auf dem groß das Logo einer skandinavischen Neonazi-Band prangte. Wie sich später herausstellt, wiegt sich André E. in Sicherheit, da er bis zum 13. September 2017 auf freien Fuß ist. Er geht offenbar davon aus, freigesprochen zu werden.
Peter Kneffel/dpa
6. Juli 2015 - Vierter Verteidiger für Zschäpe
Der Krach um die Pflichtverteidiger geht weiter. Deshalb bekommt Zschäpe einen vierten Pflichtverteidiger: Mathias Grasel (links). Grasel steigt somit zwei Jahre nach Prozessbeginn ein - er verpasste viele wichtige Zeugenaussagen. Dafür, so wird argumentiert, genieße er das Vertrauen der Angeklagten.
Zschäpes Alt-Verteidiger Anja Sturm (Mitte), Wolfgang Heer (rechts) und Wolfang Stahl (sitzend) scheitern mit Versuchen, von den Mandaten entbunden zu werden. Einmal zeigt Zschäpe die drei sogar an - erfolglos.
Andreas Gebert/dpa
9. Dezember 2015 - Zschäpe und Anwälte wechseln die Strategie
Zschäpe äußert sich erstmals vor Gericht: Am 249. Verhandlungstag verliest ihr neuer Anwalt Grasel eine Aussage. Darin räumt sie ein, von den Banküberfällen ihrer Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewusst zu haben. Sie gesteht, die letzte Fluchtwohnung des Trios in Zwickau in Brand gesteckt zu haben. Aber von den Morden und Anschlägen will sie immer erst im Nachhinein erfahren haben.
Tobias Hase/dpa
Der Mann hinter der Wende: Hermann Borchert
Für die abrupten Strategiewechsel der Verteidigung machen Beobachter und Journalisten vor allem den mittlerweile fünften Anwalt von Zschäpe verantwortlich. Hermann Borchert (links) ist von Zschäpe als Wahlanwalt genommen worden, das bedeutet, er wird nicht vom Steuerzahler bezahlt. Er ist Kanzleichef von Anwalt Nummer vier, Mathias Grasel (rechts).
Borchert geriet in den Fokus der Medien, weil er in Branchendiensten mit einem Doktortitel wirbt, den er aber nach deutschem Recht nicht hat. Stattdessen besitzt er lediglich einen JUdr., einen "kleinen Doktortitel", den es in Ländern wie Tschechien gibt.
Tobias Hase/dpa
16. Dezember 2015 - Wohlleben bricht sein Schweigen
Kurz nach Zschäpes Verlautbarung bricht auch Wohlleben sein Schweigen. Er bestreitet, eine der Mordwaffen, die „Ceska“, beschafft zu haben. Auch bestreitet er, Carsten S. beauftragt oder bezahlt zu haben dafür, dass er dem NSU-Trio die Waffe übergibt.
Andreas Gebert/dpa
29. September 2016 - Zschäpe ergreift das Wort
Nach dreieinhalb Jahren ergreift Zschäpe zum ersten Mal persönlich das Wort - für eine kurze Erklärung: Sie bedauere ihr „Fehlverhalten“ und sie verurteile, was ihre Freunde Mundlos und Böhnhardt den Opfern „angetan haben“.
Matthias Schrader/AP/dpa
17. Januar 2017 - Gutachter bestätigt "volle Schuldfähigkeit" Zschäpes
Der Psychiater Henning Saß bescheinigt Zschäpe volle Schuldfähigkeit; sie sei möglicherweise noch immer gefährlich.
Peter Kneffel/dpa
3. Mai 2017 - Gutachter der Anwälte sieht das ganz anders
Der von Zschäpes Vertrauensanwälten Grasel und Borchert benannte Gutachter Joachim Bauer (Foto) attestiert Zschäpe verminderte Schuldfähigkeit. Doch das Gericht lehnt Bauer später wegen befürchteter Parteilichkeit ab.
Peter Kneffel/dpa
25. Juli 2017- Bundesanwaltschaft beginnt mit ihrem Plädoyer
Bundesanwalt Herbert Diemer (l-r), Oberstaatsanwältin Anette Greger und Bundesanwalt Jochen Weingarten im Oberlandesgericht München.
Peter Kneffel/dpa
12. September 2017: Bundesanwalt fordert lebenslange Haft für Zschäpe
Herbert Diemer fordert lebenslange Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Der Bundesanwalt betonte: „Sie hat alles gewusst, alles mitgetragen und auf ihre eigene Art mitgesteuert und mit bewirkt.“ Damit habe Zschäpe „fast schon massenhaft“ Verbrechen gegen das Leben anderer Menschen begangen.
Am gleichen Tag fordert Diemer auch für die Mitangeklagten teils lange Haftstrafen...
Peter Kneffel/dpa
...für Ralf Wohlleben fordert der Bundesanwalt zwölf Jahre Haft
Die Anklage hält Ralf Wohlleben für eine „steuernde Zentralfigur“ beim Aufbau des NSU und hat wegen Beihilfe zum Mord 12 Jahre Gefängnis für ihn beantragt. Gewalt lehne er ab, sagte Wohlleben im Prozess. Von den Morden habe er nichts gewusst.
Seine Verteidiger haben in den vergangenen Monaten vergeblich versucht, einen alternativen Beschaffungsweg der Mord-Ceska zu beweisen. Allerdings hielt es das Gericht zuletzt für möglich, es könne eine weitere Pistole gleichen Typs geben, die sich die Terroristen auf ungeklärte Weise beschafft haben könnten. Wohlleben sitzt seit sechseinhalb Jahren in Untersuchungshaft.
Matthias Schrader/AP/dpa
... für André E. ebenso zwölf Jahre
Unter anderem wegen Beihilfe zum versuchten Mord. E. soll geholfen haben beim Bombenanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse in Köln.
Der 38-Jährige soll dem NSU-Trio bis zum Schluss außerdem bei der Tarnung geholfen haben. E. soll damals das Wohnmobil gemietet haben, mit dem die Täter nach Köln fuhren. Als die Polizei wegen eines Wasserschadens im Haus einer Fluchtwohnung ermittelte, soll er Beate Zschäpe zu einer Vernehmung begleitet und sie als seine Ehefrau ausgegeben haben. Er soll eine Wohnung und Fahrzeuge organisiert haben. E. wurde einen Tag nach dem Anklageplädoyer, am 13. September 2017, in Untersuchungshaft genommen. Die Bundesanwaltschaft hat die Abtrennung seines Verfahrens beantragt. Die Entscheidung darüber hat das Gericht zurückgestellt. André E.s Anwälte wiesen in ihrem Plädoyer sämtliche Anklagevorwürfe zurück, allen voran den Vorwurf der Beihilfe zum versuchten Mord. Sie forderten Freispruch.
Jan Woitas/dpa
...für Holger G. will der Bundesanwalt fünf Jahre Haft
...wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. G. soll unter anderem falsche Dokumente für die NSU-Terroristen besorgt haben. Auch in den Urlaub soll er mit dem NSU-Trio gefahren sein. Uwe Böhnhardt lebte 13 Jahre unter der Identität von Holger G..
G. befindet sich auf freiem Fuß und reist für jede Verhandlungswoche nach München an. Seine Anwälte fordern eine Strafe von "unter zwei Jahren". Deren Aussage: Holger G. half dem Trio, die er als seine Freunde bezeichnete, wusste aber nichts von den Morden.
Tobias Hase/dpa
... für Carsten S. fordert der Bundesanwalt Jugendhaft
Für den reuigen Carsten S., der die Ceska-Waffe laut Anklage zu Mundlos und Böhnhardt nach Chemnitz gebracht haben soll, fordert der Bundesanwalt drei Jahre Jugendstrafe. Carsten S. war zur Tatzeit noch nicht 21 Jahre alt. Er befindet sich auf freiem Fuß und lebt im Zeugenschutzprogramm. Die Anwälte von Carsten S. forderten Freispruch für ihren Mandanten. Der heute 38-Jährige habe nichts von den geplanten Morden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gewusst, argumentierten sie. S. sei nur der „willfährige Adlatus“ des Mitangeklagten Ralf Wohlleben gewesen, der bei der Waffenbeschaffung demnach die zentrale Rolle gespielt haben soll.
Tobias Hase/dpa
15. November 2017 - Plädoyers der Nebenkläger beginnen
Nach zwei Monaten Stillstand wegen zahlreicher Befangenheitsanträge beginnen die Plädoyers der Nebenkläger - mit Frontalangriffen auf Zschäpe, aber auch auf die Bundesanwaltschaft.
Eine der Nebenklägerinnen ist Adile Simsek (Foto), Schwiegermutter des am 9. September 2000 in Nürnberg erschossenen Enver Simsek.
Peter Kneffel/dpa
6. Dezember 2017: Angehörige der Opfer sind enttäuscht
Das Verfahren habe ihnen die erhofften Antworten nicht gebracht, sagten die Eltern von Halit Yozgat, der 2006 in seinem Internetcafé in Kassel mutmaßlich von den NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen worden war, bei den Schlussvorträgen der Nebenkläger. Der Staat habe seine Mitverantwortung nicht gänzlich aufgeklärt.
Die Mutter des Ermordeten sagte, das Gericht sei ihre letzte Hoffnung gewesen. „Aber ich sehe, dass bei Ihnen auch kein Ergebnis herauskommt.“ Es werde der Tag kommen, „wo Allah alles aufklären wird“. Yozgats Vater forderte die Richter auf, nach Kassel zu reisen und das Internetcafé in Augenschein zu nehmen. Sie würden dann feststellen, dass der Verfassungsschutzbeamte gelogen habe, der sich zur Tatzeit dort aufhielt. Der Vater sagte, er sei überzeugt, der „Agent“ habe seinen Sohn selber ermordet oder den Mord arrangiert.
Frank Rumpenhorst/dpa
3. Juli 2018 - Zschäpe distanziert sich im Schlusswort von den Verbrechen
Zschäpe und drei der vier Mitangeklagten äußern sich in persönlichen Schlussworten. Zschäpe distanziert sich noch einmal von den NSU-Verbrechen.
„Bitte verurteilen Sie mich nicht stellvertretend für etwas, was ich weder gewollt noch getan habe“, sagte die Hauptangeklagte in ihrem rund fünfminütigen persönlichen Schlusswort vor dem Münchner Oberlandesgericht. Zschäpe sagte auch: „Ich wollte und will die Verantwortung für die Dinge übernehmen, die ich selbst verschuldet habe und entschuldige mich für das Leid, was ich verursacht habe.“
Es war eine akribische, oft zähe Suche nach der Wahrheit im Münchner NSU-Prozess. Sie dauerte mehr als fünf Jahre und mehr als 430 Verhandlungstage. Der NSU-Prozess wird in die deutsche Geschichte eingehen, nicht nur wegen der abscheulichen Taten, sondern auch wegen des immensen Aufwandes.