In den Klassenzimmern offenbart sich die größte Diskrepanz zwischen digitalem Bewusstsein der Schüler einerseits und den überwiegend vordigitalen Lernmethoden der Lehrerschaft. Eine Brücke bauen zwischen den Welten möchte die Professorin Heidi Schelhowe, die als Hochschullehrerin im Fachbereich Informatik an der Universität Bremen arbeitet und dort die Arbeitsgruppe Dimeb leitet (siehe Kasten). Hier beschäftigen sich Schelhowe und ihre Mitarbeiter mit dem Einsatz, der Entwicklung und Erforschung digitaler Medien in der Bildung. Peter Kusenberg besuchte die Arbeitsgruppe und sprach mit Heidi Schelhowe.
Was ist das Ziel beim Dimeb?
Heidi Schelhowe: Unsere Aufgabe besteht darin, einen Anwendungsschwerpunkt Bildung zu erforschen. Wir fragen: „Wie entwickelt man gute Software für Bildung?“ Zudem kümmern wir uns um die Lehrerbildung. Wenn Lehramtsstudentinnen und -studenten zu uns kommen, erwerben sie durch die praktische und theoretische Beschäftigung mit digitalen Bildungsmedien ein Zertifikat. Außerdem erstellen wir Angebote für Schulen sowie für Kinder und Jugendliche.
Die Kinder kommen hierher?
Genau, wir laden Kinder und Jugendliche aus Schulen und Heimen in unsere Labore und bringen sie in Berührung mit digitaler Hard- und Software. Wie Sie sehen, haben wir hier mehrere 3D-Drucker und einen Laser-Schneider, damit kann man die Veränderung und Erstellung von digitalem Code prima veranschaulichen.
Können Sie sagen, welche Art Studenten herkommen?
Es sind besonders motivierte Studentinnen und Studenten, die sich genau überlegen, wie sie ihre Medienkompetenz später nutzbringend einsetzen.
Wie weit sind die jetzt aktiven Lehrerinnen und Lehrer im Bezug auf Medienkompetenz?
Die Lehrer können mit den digitalen Medien gut umgehen. Doch wenig ausgeprägt ist bei ihnen das Bewusstsein dafür, was Medienkompetenz heißt. Wir verstehen Medienkompetenz in umfassendem Sinne: Man muss Informationen einordnen können, man muss ein Verständnis gewinnen von der Funktionsweise der Maschine. Was passiert in der Maschine, wenn bei Facebook plötzlich Freunde vorgeschlagen werden? Bedauerlich finde ich, dass dieser Lernbereich nicht im Curriculum der Lehrer fest verankert ist.
In puncto Digitaltechnik wirken manche Schüler versierter als ihre Lehrer. Wie empfinden Sie diese Diskrepanz?
Kinder und Jugendliche nutzen digitale Angebote à la Wikipedia selbstständig, sie chatten nicht nur mit ihren Freunden und spielen am PC. Dabei bekommen sie zu wenig Unterstützung seitens der Lehrer. Die Lehrer müssten erklären, wie die Schüler gute Literatur finden und wie sie Wikipedia als Basis für die Quellensuche nutzen.
Ist die Medienkompetenz der Schüler über die Jahre hinweg gewachsen?
Ich befürchte, dass die Spaltung größer wird, also dass viele Jugendliche ein sehr großes Bewusstsein haben im Bezug auf digitale Medien und ihre Struktur. Andererseits gibt es zunehmend mehr Jugendliche, die keine komplexen Programme bedienen können. Dabei werden die Programme anspruchsvoller, und die Ansprüche der Arbeitswelt an die digitale Kompetenz der Bewerberinnen und Bewerber wächst. Bei den sozialen Geisteswissenschaften ist es zunehmend nötig, Programme zumindest zu verstehen.
Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer warnt davor, Computer in der Bildung einzusetzen. Das widerspricht fundamental Ihrem Ansatz.
Es ist erstaunlich, dass Spitzer solch eine Resonanz findet in der Veröffentlichung. Wobei es unter anderem eine Altersfrage ist: Die Alten haben Angst vor dem Neuen, bei den Älteren finden solche Thesen eher Anklang, weil sie am Bewährten festhalten möchten. Ich habe selten Jugendliche Befürchtungen äußern gehört, dass sie Angst davor haben, keinen Überblick mehr zu bekommen.
Es gibt ein allgemeines Unwohlsein im Bezug auf die Dominanz des Digitalen.
Ja, die Menschen haben das Gefühl, es entgleitet ihnen die Kontrolle über ihr Leben. Das Wichtige dabei ist, dass wir sehen, dass sich die Welt verändert. Die Computer sind in der Welt, auch in handwerklichen Berufen gibt es Computer. Wir können uns nicht davon fernhalten, wir können nur versuchen, dass wir die Maschinen verstehen. Dabei müssen wir uns vehement darum bemühen, ein Verständnis von den digitalen Dingen zu entwickeln.
Hilft 3D-Druck dabei, den Prozess zu veranschaulichen?
Wir versuchen, die Software mit dem Physischen zu verbinden, also das Abstrakte, Zeichenhafte mit dem Be-Greifbaren zu verbinden. Wirklich faszinierend am Computer ist, dass zwei Welten miteinander verbunden werden. Kinder können mit bestimmten Programmen sehen, was ihre Programmierarbeit bewirkt. Sie schreiben Code auf dem Computer, und dann läuft der Roboter: Das ist der Schlüsselmoment, dann sehen sie, dass der eigene Denkprozess dazu führt, dass sich ein digitales Ding bewegt oder sonst etwas macht.
Wie alt sind die Kinder?
Wir fangen in der Regel in der vierten Klasse an, wenn‘s ums Programmieren geht. Wir haben auch schon mit Vorschul- und Grundschul-Kindern gearbeitet, dann versuchen wir, Parameter zu verschieben, etwa mit dem programmierbaren Pleo. Mit diesem niedlichen Dinosaurier-Roboter kann man auf einfache Weise das Wirken von Computern demonstrieren. Der Pleo wird mit Chips gefüttert und macht etwas, je nach dem, welchen Chip man ihm zu fressen gibt. Unsere Bemühungen im Bezug auf Medienkompetenz gehen dahin, dass die Kinder verstehen, dass sie das Verhalten des Pleo beeinflussen können, indem sie den digitalen Code verändern, was hier ohne echtes Programmieren funktioniert.
Wäre dann nicht das Tablet die ideale erste Schnittstelle für kleine Kinder?
Ja, es hängt davon ab, was man auf einem Tablet macht. Ich hätte nichts dagegen. Das Enkelkind meiner Tochter bewegt Bilder auf dem I-Phone hin und her.
Aber beim Blättern fasst man die Blätter ja nicht mehr an. Herr Spitzer würde sagen, dass hier Synapsen anders verschaltet werden.
Ja, es gibt viele Studien, die feststellen, dass die Computer-Arbeit eine Menge Veränderungen im Hirn bewirkt. Es kommt auf die Interpretation dieser Studien an. Einige Bereiche im Hirn werden gestärkt, andere werden geschwächt. Das war schon immer so, es passiert immer etwas im Gehirn. Bei der Popularisierung der Schrift im 16. Jahrhundert sind einige Hirnareale verödet, doch damit passt sich der Mensch an den jeweiligen Stand der Technik an.
Sehen Sie einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungs?
Es gibt keine relevanten Unterschiede, insofern wir das Interesse der Mädchen am Programmieren wecken können. Wir haben Kinder dazu ermutigt, digitale Elemente in Kleidern zu programmieren. So etwas fördert das Interesse insbesondere der Mädchen. Bei den Robotern waren sie zurückhaltender. Wir haben vor längerer Zeit ein Eduware-Projekt entwickelt, da gibt es einen Koffer, mit dem man intelligente Kleidung herstellen kann – das hat die Mädchen zum Mitmachen ermutigt.
Ist also das spielerische Lernen erstrebenswert?
Man kann zwar spielerisch lernen, doch man sollte hinter dem Spiel das Lernen nicht verstecken, das wirkt manipulativ. Lernen ist ja nichts Negatives, Lernen sollte bewusst geschehen und nicht hinterrücks, etwa durch eher plumpe Lernspiele.
Wie wird der Unterricht in zehn Jahren aussehen?
Früher waren die Universitäten und Schulen die Garanten dafür, dass die Bildung zu den Menschen kommt. Doch diese Zeit ist vorbei, diese Rolle werden Lehrer nicht mehr einnehmen. Die Lehrer sind dazu da, das Lernen zu koordinieren und das Lernen zu begleiten. Ich glaube, dieses Wissen wird sich in der Praxis durchsetzen, und Computer-gestützte Lerninstrumente werden selbstverständlich in den Unterricht einbezogen.
Fürchten sich die Lehrer nicht vor dem Machtverlust?
In Berlin habe ich während einer Veranstaltung erfahren, dass die Informatiklehrer große Angst davor hatten, dass sie die neuesten Programmiersprachen nicht beherrschen und ihnen die Schüler überlegen sein werden. Ich habe gesagt: „Sie müssen die Schüler anleiten und ihnen dabei helfen, sich Kenntnisse anzueignen. Diese Aufgabe ist mindestens so anspruchsvoll wie die reine Weitergabe von Wissen.“