Mut muss der kleine, muskelbepackte Mann gehabt haben – und mächtigen Hunger. Nur mit einer Lanze bewaffnet wagte er sich in die nächste Nähe eines ausgewachsenen Ur-Elefanten. Er konnte das Tier überraschen und ihm das Holz zwischen die Rippen rammen.
120 000 Jahre ist das her. Der Mann war ein Neandertaler. Er trug Fellkleidung und war in Begleitung weiterer Jagdgenossen, die mit ihm durch die Baumsavanne streiften. Die Gruppe verfolgte den verwundeten Alt-Elefanten. Das fünf Meter hohe, tonnenschwere Tier stürzte schließlich in einen See und verendete. Bevor es versank, schnitten ihm die Jäger mit Flintsteinmessern große Brocken Fleisch aus dem Körper.
Abgespielt hat sich die Jagdszene in einem Gelände unweit der heutigen Stadt Verden an der Aller. Wissenschaftler konnten das Geschehen rekonstruieren, weil der hölzerne Spieß des Neandertalers und Skelettteile des Elefanten 1948 bei Baggerarbeiten gefunden wurden.
Als „Lanze von Lehringen“ hat die Waffe, die heute im Verdener Domherrenhaus, einem Museum, liegt, Berühmtheit erlangt. Sie gehört zu den ältesten Holzartefakten weltweit und hat die Vorstellungen über die früheste Menschheitsgeschichte verändert.
Vor wenigen Tagen hat Museumsleiter Björn Emigholz die Lanze, die einen Dauerliegeplatz in einer Glasvitrine im Domherrenhaus gefunden hat, in eine klimatisierte Kiste verpackt und nach Hannover transportieren lassen. Das dortige Landesmuseum bereitet eine Ausstellung zur Frühgeschichte der Menschheit vor. Der Spieß aus dem Kreis Verden soll dabei eine zentrale Rolle spielen.
Ausgerechnet das Landesmuseum in Hannover, wird so mancher ältere Verdener denken. In der Allerstadt hat man bis heute nicht vergessen, dass die Lanze von Lehringen einst Gegenstand eines erbitterten Streits mit den Hannoveranern gewesen war. Am 1. April 1948 erfuhr der Rektor im Ruhestand und Heimatkundler Alexander Rosenbrock aus Verden, dass ein Bagger in einer Mergelgrube bei Lehringen in der Nähe von Verden gigantische alte Knochen freigelegt hatte. Rosenbrock eilte dorthin, begann in der Mergelgrube zu buddeln – und machte den Fund seines Lebens. Er entdeckte den Neandertaler-Speer, der zwischen zwei mächtigen Rippen steckte, sowie Feuersteinmesser. Rosenbrock informierte die Archäologen des hannoverschen Landesmuseums, die den Fund später untersuchten und schnell zu der Erkenntnis kamen, dass er von weitreichender Bedeutung war. Ein siebenjähriger Konflikt um die Lanze von Lehringen folgte, weil die Hannoveraner die Waffe nicht mehr herausrücken wollten. Der Verdener Stadtrat verklagte sogar den Kultusminister, der sich alsbald starker öffentlicher Kritik ausgesetzt sah. Die Lanze sei zum Politikum geworden, notierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Jahre 1955. Von vielen Seiten unter Druck gesetzt, entschied der Minister schließlich, der Speer solle den Verdenern zurückgegeben werden.
Einen ähnlichen Konflikt fürchtet der Verdener Museumsleiter Emigholz diesmal nicht. „Wir haben gute Verträge für die Leihgabe mit dem Landesmuseum gemacht“, schmunzelt Emigholz. Niemand werde es wagen, den Verdenern nochmals die legendäre Lanze wegzunehmen.
Wie Emigholz berichtet, ist die Waffe auch mehr als 70 Jahre nach ihrem Auffinden immer noch Gegenstand lebhaften wissenschaftlichen Interesses. So hätten unlängst Fachleute der Sporthochschule Köln das aus einem Eibenstamm geschnitzte und im Feuer gehärtete Artefakt genauestens auf seine Flugeigenschaften hin untersucht. Ihre Erkenntnis war, dass sich die Waffe sowohl als Wurfspeer wie auch als Stoßlanze hervorragend eigne. Eine Antwort gebe es jetzt auch auf die Frage, warum die Lanze an ihrem Fuß vergleichsweise dick sei: Sie diente den Neandertalern auch als Grabwerkzeug, war also multifunktional. Die Muskelprotze mit ihren Bärenfellschürzen waren seinerzeit schon erstaunlich weit entwickelt.
Weil die Lanze von Lehringen jetzt für längere Zeit im Landesmuseum in Hannover gezeigt wird, ist derzeit in Verden im Domherrenhaus eine
Replik der Waffe zu sehen. Die Ausstellung dort zeigt auch weitere Funde und informiert über das Leben der Neandertaler in grauer Vorzeit. Das Domherrenhaus ist täglich außer montags geöffnet – jeweils von 10 bis 13 Uhr und von 15 bis
17 Uhr. (www.domherrenhaus.de)