Der Morgen ist frisch und klar und die lauschige Nebenstraße menschenleer, als sich die ersten Sonnenstrahlen über die Giebel und Kirchtürme im Altstadtkern von Rothenburg ob der Tauber schieben. Gut gelaunt öffnet Hilde Kistenfeger die Tür ihres blau gestrichenen und von Rosen umrankten Fachwerkhauses. „Kommt rein, immer den Pflanzenkübeln nach“, sagt sie und deutet durch eine urige Diele in einen dicht bewachsenen Innenhof. Wer diesen zum ersten Mal betritt, staunt nicht schlecht: Versteckt hinter der verwinkelten Hausfassade eröffnet sich ein verwunschener Rückzugsort von beeindruckender Größe.

Blick in den Garten der Familie Kistenfeger.
Verschlungene Wege führen durch eine rund 800 Quadratmeter große Oase mit alten Obstbäumen, Zierpflanzen, Nutzgarten und Gemüsebeeten und vorbei an windgeschützten Sitznischen mit Blick auf den Faulturm an der östlichen Stadtmauer. „Mein ganzer Stolz sind die mehr als 100 Rosen, die vielen Pfingstrosen und die Vielfalt an Iris“, erzählt die Hobbygärtnerin und schlendert vorbei an den farbenprächtigen Gewächsen, die bei ihr mal akkurat geschnitten und mal frei rankend am alten Mauerwerk wachsen dürfen. „Mir gefällt die Mischung aus halbwilden Flächen, in denen sich die Blumen austoben dürfen, und gepflegten Beeten. Ich muss meinem Mann zwar jedes Jahr aufs Neue versprechen, keine neue Sorte mehr zu pflanzen, aber geklappt hat das bisher noch nie“, sagt sie schmunzelnd. Zum Glück für ihre Besucher, die sich in den sommerlichen Blühmonaten und bis Anfang Herbst an der wilden Schönheit und den hier und da verteilten Kunstwerken im Garten der Familie Kistenfeger erfreuen dürfen.
Offene Pforte zu Naturparadiesen
Die Idee, verborgene Gartenparadiese für Touristen zu öffnen, entstand in den Köpfen der Rothenburger Stadtverwalter vor etwa fünf Jahren – neben dem kleinen Platz am Brunnen (Plönlein)und Fachwerkromantik lockt die Tauberstadt auch mit einer üppigen Flora. Jedes Jahr zwischen Mai und Oktober öffnen seither ausgewählte Gartenbesitzer nach vorheriger Anmeldung ihre Pforten zu kleinen Naturparadiesen. Besucher können im eigenen Tempo durch die Gärten wandeln, an der blühenden Vielfalt schnuppern und natürlich mit den Gartenbesitzern ins Gespräch kommen – über Pflanzenpflege, Gestaltungsideen und die besondere Geschichte hinter jedem dieser stillen Kleinode.
Es blüht und brummt
Viele der Gärten, wie der von Familie Kistenfeger, liegen geschützt hinter Fach- und Mauerwerk, während andere auch von außen einsehbar sind: Bei einem Spaziergang entlang der Rothenburger Riviera auf der Burggasse lohnt ein Blick die Steinmauer hinab in das lang gestreckte Refugium von Christine und Mato Kelemovic. Der über eine steile Stiege am Anfang der Gasse zu erreichende Garten zieht sich bis zum Franziskanerturm und bietet nicht nur verschiedenen heimischen Pflanzen und exotischen Blumen eine Heimat, sondern auch sechs fleißig brummenden Bienenvölkern. „Als wir den riesigen Garten 2019 übernommen haben, lag hier alles brach“, erzählt Christine. „Mittlerweile ziehen wir Zucchini, Paprika, Auberginen, Mangold, Waldmeister, Tomaten und verschiedene Kräuter. Selbst Feigen und Granatapfel gedeihen bei uns gut.“ Zwischen den Nutzbeeten wachsen Kirsch-, Apfel- und Birnenbäume sowie ein seltener Blauglockenbaum, an der sonnenverwöhnten Stadtmauer duften Lavendel, Flieder, Rosen, Astern, Dahlien und Lilien. „Bei uns blüht es das ganze Jahr, das freut vor allem meine Bienen“, sagt Mato und reicht stolz ein kleines Glas mit goldgelbem Nektar über den Gartentisch. Seinen Honig erntet der gebürtige Kroate vor Ort und an zehn weiteren Standorten rund um Rothenburg. In diesem Jahr sind seine Bienen besonders fleißig – die dritte Ernte steht bereits an, mit dem Abfüllen kommt Mato kaum hinterher. Wer das Ehepaar Kelemovic besucht, darf sich am Ende des Rundgangs durch das summende Gartenparadies also gerne etwas Honig abfüllen lassen – als süße Erinnerung für zu Hause.

Vinothek des Weinguts Glocke am Plönlein in Rothenburg ob der Tauber.
Neben den privaten Gartenparadiesen lassen sich in der mittelalterlichen Stadt an der Tauber aber auch öffentliche Parks und grüne Rückzugsorte entdecken – ganz ohne Voranmeldung. Oberhalb des Gartens von Familie Kelemovic führt die Rothenburger Riviera nach wenigen Schritten in den Burggarten, einem besonders stillen Fleck abseits der Altstadtgassen. Über einen Panoramaweg geht es vorbei an der historischen Blasiuskapelle und einem sauber angelegten Beet mit den Allegorien der vier Jahreszeiten. „Das Highlight im Burggarten ist aber die Aussicht. Der Blick über das grüne Band des Taubertals ist von hier oben einmalig“, sagt Wanderführerin Elke Wedel, die seit 2017 Entdeckungstouren in kleinen Gruppen durch ihre Heimat anbietet. „Tatsächlich ist die ganze Stadt ein einziger Landschaftsgarten. Der beginnt hier im Burggarten und zieht sich durch das Zentrum und den nahen Klostergarten bis zu den Reben des Weingartens am Südhang unter uns.“
Besondere Weine
Apropos: Der südlichste Weinberg Frankens ist durch einen verschlungenen Wanderweg zu erreichen und bis auf die Reifemonate die meiste Zeit des Jahres frei zu durchwandern. Mehr als 40 teilweise historische Rebsorten wachsen an dem sonnigen Steilhang, der vom fränkischen Schichtstufenland geprägt ist. Das dort vorherrschende Mikroklima und der kalkhaltige Boden mit seiner typischen Muschelkalkstruktur schaffen ideale Bedingungen für einen Weinbau im Einklang mit der Natur. „In unserem Weingarten verzichten wir auf jegliche Düngemittel und lesen von Hand. So erzielen wir unsere Erträge aus zwei Zutaten: gesunden Trauben und Zeit“, verrät Winzer Albert Thürauf, der in seinem seit mehreren Generationen betriebenen Weingut Glocke am Plönlein und der Vinothek gegenüber dem Rothenburger Rathaus regelmäßig zur Verkostung einlädt. „Berühmt sind wir vor allem für unseren Johanniter und den Regent“, sagt er und schenkt direkt zur Probe ein. Welche Weine im Regal stehen, entscheidet aber jedes Jahr aufs Neue das Zusammenspiel von Wetter, Reifezeit und Natur. „Kein Jahr ist wie das andere, aber genau das macht unseren Rothenburger Wein so besonders.“