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Tante Anna

Warnemünde. 20 Schritte. Bevor sie sich auf die Bank setzt, wird sie von den vier Männern umarmt. „Tante Anna ist unsere gute Seele“, sagt Karsten Waßner, Vormann der „Arkona“.
07.06.2015, 00:00 Uhr
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Tante Anna
Von Kira Pieper

Warnemünde. 20 Schritte. 20 Schritte von der Haustür bis zum Steg. Der Weg bis zur „Arkona“ ist nicht weit. Anna Krösche braucht 40 kleine Schritte, die sie kaum alleine gehen kann. Nur für ein Foto kommt die 90-Jährige kurz aus dem Haus. Vorsichtig und auf einen Stock gestützt geht sie die Treppen herunter, dann über die Warnemünder Promenade. Dort beachten die Touristen, die bei Sonnenschein am Wasser flanieren, die alte Dame kaum. Auch Anna Krösche nimmt keine Notiz von der Menschenmasse. Sie hat ein klares Ziel vor Augen: die Holzbank auf dem Anlegeplatz des Seenotrettungskreuzers „Arkona“. Die Besatzung hat die alte Dame längst entdeckt. Sie eilen herbei und öffnen die Kette, die Neugierige davor hindern soll, den Steg zu betreten. Doch die Dame ist nicht irgendeine Touristin. Die Dame ist „Tante Anna“.

Bevor sie sich auf die Bank setzt, wird sie von den vier Männern umarmt. „Tante Anna ist unsere gute Seele“, sagt Karsten Waßner, Vormann der „Arkona“. Tante Anna lacht und winkt ab, als ob sie das gar nicht hören mag. Doch Waßner erzählt: „Sie hat uns früher immer mal einen Kuchen gebacken oder Kartoffelsalat gemacht.“ Tante Anna stellt klar: „Ja, aber heute mach ich das nicht mehr.“ Die 90-Jährige schafft es einfach nicht mehr. Deswegen wird sie nun von den Seenotrettern versorgt: „Wenn wir einmal die Woche einkaufen gehen, bringen wir Tante Anna die schweren Sachen mit, wie Wasserkisten und Kartoffeln. Und wenn wir von den Fischern mal einen Fisch geschenkt bekommen, geben wir ihn Anna.“

Die Freundschaft zwischen Anna Krösche und den Warnemünder Seenotrettern ist so alt, dass sich niemand mehr so richtig erinnern kann, wie sie eigentlich anfing. Tante Anna hat mitbekommen, wie Besatzungsmitglieder ihre Ausbildung auf den Seenotkreuzern machten und wie sie in Rente gingen. Vormann Karsten Waßner ist seit 1990 dabei. Auch an diesem Tag ist er eines von insgesamt vier Besatzungsmitgliedern, die Tag und Nacht auf der „Arkona“ sein müssen. Das Schiff muss jederzeit einsatzbereit sein. „Wir haben pro Jahr 66 bis 70 Einsätze. Die meisten davon im Sommer“, erklärt Waßner. Denn bei gutem Wetter sind besonders viele Boote draußen. Die Bandbreite der Notfälle reicht von Mastbrüchen über Schiffsuntergänge, Verletzungen und medizinische Notfälle bis hin bis hin zu Kuttern mit Motorschäden. Die Seenotretter schleppen die manövrierunfähigen Schiffe dann zurück in den Hafen.

Tante Anna entgeht nie, wenn die Seenotretter ausrücken. Wenn sie aus ihrem Wohnzimmerfenster blickt, fällt ihr sofort auf, wenn die „Arkona“ fehlt. Und wenn das Schiff wieder zurückkommt, vielleicht sogar mit einem anderen Boot im Schlepptau. Dann frage die 90-Jährige schon mal nach, was los gewesen sei, sagt Waßner. Doch die alte Dame stellt sofort klar: „Aber ich möchte nicht jedes Mal wissen, warum die Jungens raus mussten. Das geht mich ja auch nichts an.“

Mittlerweile sitzt Tante Anna wieder in ihrer Küche. Nachdem sie ihren Mantel ausgezogen hat, wird sichtbar, dass sich die Frau mit dem weißen, kurzen Haaren hübsch gemacht hat: Sie trägt einen langen dunklen Faltenrock, eine grüngemusterte Bluse und darüber einen gelben Pullover. In ihrer offenen Küche, die ins Wohnzimmer reicht, steht alles an seinem Platz. In dieser Ordnung fällt auf: Anna Krösche mag die Farbe Rot. Die Kaffeemaschine ist rot, das Radio, die Topflappen, die Eieruhr. Seenotretter-Rot ist auch die Jacke von Vormann Karsten Waßner. Der sitzt nun neben Tante Anna. Gemeinsam schauen sie Fotos an. „Wir haben immer Geburtstage bei Tante Anna gefeiert“, sagt der Vormann. Eine enge Freundschaft, die langsam gewachsen ist. „Man kannte sich halt. Durch die Nachbarschaft“, sagt der 55-Jährige.

Einige Fotos sind älter als 55 Jahre. Darauf zu sehen ist Anna Krösches Vater Johann. Er war vor dem Zweiten Weltkrieg bei den Seenotrettern in Ostpreußen. „Damals noch im Ruderboot“, erzählt Krösche und zeigt auf ein schwarz-weißes Bild, das vor ihr auf dem Küchentisch liegt. Darauf sind sechs Pferde abgebildet, die ein Boot auf Rädern hinter sich herziehen. So brachten sie die Retter auf dem schnellstmöglichen Weg zum Wasser. Dann mussten die Männer rudern. Mit dem sogenannten Raketenapparat schossen sie von Land eine Leine zu den Schiffsbrüchigen. Geborgen wurden sie mit Hilfe einer Hosenboje. „Die sieht aus wie ein Rettungsring mit einer angenähten Hose“, erklärt Waßner. Anna Krösche erzählt, sie habe es nie so richtig mitbekommen, wenn ihr Vater raus musste. Wenn Sturm war, habe sie selbst viel zu tun gehabt. „Wir hatten eine Landwirtschaft und eine Fischerei“, sagt Krösche. „Bei Sturm musste ich mit dem Ruderboot die Netze reinholen, weil mein Bruder das nicht machen wollte.“

„Die ,Mecklenburg-Vorpommern‘ fährt raus“, unterbricht Tante Anna plötzlich das Gespräch. Ihre Augen sehen noch gestochen scharf. Problemlos kann sie den Schriftzug der Fähre entziffern, die gerade langsam an ihrem Wohnzimmerfenster vorbeifährt. Seit 1973 wohnt sie dort. Seit ihr Ehemann Hans vor zwanzig Jahren gestorben ist, lebt sie alleine. „Ich bin immer froh, wenn jemand in der Wohnung über mir rumtrampelt“, sagt sie. Und wenn die Seenotretter sie besuchen.

Doch Karsten Waßner muss wieder los. Zurück an Bord der „Arkona“. Tante Anna bleibt allein zurück. „Aber wenn wir sie zwei Tage lang nicht am Fenster gesehen haben, gucken wir nach, ob alles in Ordnung ist“, sagt der Vormann.

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