Delmenhorst. Er ist 20 Jahre alt, lebt in Delmenhorst – und steht kurz vor seinem Debüt in der Fußball-Nationalmannschaft von Afghanistan: Mustafa Azadzoy. Vor wenigen Tagen hat der Mittelfeldspieler des Regionalligisten VfB Oldenburg erfahren, dass Nationaltrainer Mohammad Yousef Kargar für die Länderspiele im März gegen Sri Lanka, die Mongolei und Laos mit ihm plant. Für Azadzoy geht damit ein Traum in Erfüllung: "Es ist mir eine Ehre, für mein Land Fußball spielen zu dürfen."
Am 11. Dezember 2011 hat Mustafa Azadzoy seiner Mutter Latifa etwas versprochen. Im heimischen Wohnzimmer in Delmenhorst saß die ganze Familie wie gebannt vor dem Fernseher und verfolgte das Finale der Fußball-Südasienmeisterschaft. Seit sie 1993 aus ihrem Heimatland hatten flüchten müssen und über die Station Hamburg in Delmenhorst gelandet waren, hatten die Azadzoys kaum ein Spiel der Nationalmannschaft Afghanistans verpasst. In Neu-Delhi lief es für das Team an jenem 11. Dezember allerdings alles andere als gut – dank eines klaren 4:0-Erfolgs fuhr Gastgeber Indien den Titel ein. "Ich habe an dem Abend gesagt: Irgendwann spiele ich da mit", erinnert sich der heute 20-jährige Mustafa Azadzoy, der jetzt, zwei Jahre später, kurz davor steht, sein Versprechen einzulösen.
Vor wenigen Tagen hat der offensive Mittelfeldspieler, der zum Regionalliga-Kader des VfB Oldenburg gehört, erfahren, dass Afghanistans Nationaltrainer Mohammad Yousef Kargar ihn bei den Länderspielen im März gegen Sri Lanka, die Mongolei und Laos dabei haben möchte. "Meine ganze Familie ist sehr, sehr stolz", berichtet Azadzoy.
Über den Oldenburger Torhüter Mansur Faqiryar war der Kontakt zu Kargar im vergangenen Jahr zustande gekommen. Die Nummer eins des Regionalligisten ist seit Jahren auch im Tor der afghanischen Nationalmannschaft gesetzt – und hatte dank dieser Position auf Rückfahrten nach Oldenburger Auswärtsspielen immer den gleichen Sitznachbarn im Bus. "Ich habe die Gelegenheit genutzt, damit er mir alles über seine Erfahrungen mit dem Nationalteam erzählen kann", sagt Azadzoy. Da Faqiryar zudem von den fußballerischen Qualitäten des Delmenhorsters überzeugt ist, und sein Wort bei Trainer Kargar Gewicht hat, landete im Juni 2012 eine ganz besondere E-Mail in Azadzoys Postfach: Die offizielle Einladung zu einem Lehrgang für Perspektivspieler in die USA. "Mir war sofort klar, dass ich hinfliege", erinnert sich Azadzoy, der in Virginia am Ende einer von nur fünf Spielern war, die Kargar nachhaltig überzeugt hatten und zu einem weiteren Lehrgang in Dubai gebeten wurden.
Von dieser zweiten Reise ist Mustafa Azadzoy vor wenigen Tagen nach Delmenhorst zurückgekehrt – im Gepäck die Nominierung für die drei Länderspiele im März. Während eines Testspiels, das Afghanistan gegen einen Erstligisten aus Dubai mit 7:1 gewann, trug sich auch Azadzoy in die Torschützenliste ein, durfte als einziger der nicht-etablierten Akteure 90 Minuten lang auf dem Platz stehen. Gegen Sri Lanka, die Mongolei und Laos will der Delmenhorster nun mithelfen, dass sein Heimatland, welches aktuell Platz 189 der Fifa-Weltrangliste belegt, beim AFC-Challenge-Cup eine gute Figur macht. Der großen Verantwortung, die Afghanistans Fußballer tragen, ist sich Azadzoy bewusst: "Der Sport gibt Menschen Hoffnung. Wenn ich sehe, wie viel Leid im Land herrscht, motiviert mich das noch mehr, alles zu geben."
"Der Sport gibt Menschen Hoffnung"
Die Nachrichten über den Krieg in seiner Heimat verfolgt Mustafa Azadzoy aufmerksam. "Es ist sehr traurig, was dort passiert", sagt der Delmenhorster. Seine Tanten und Onkel leben noch in der Hauptstadt Kabul. Auch bei der Nationalmannschaft ist der 20-Jährige mit der harten Realität bereits konfrontiert worden. "In Virginia hat mir ein Spieler erzählt, dass eine Woche vor dem Lehrgang während des Trainings in Kabul neben dem Stadion eine Bombe explodiert ist", berichtet Azadzoy. Auch mit Salim Kohestani hat der Delmenhorster, der fließend Farsi spricht, in Dubai ein längeres Gespräch geführt. Der schnelle Linksaußen der Nationalmannschaft hat vor einigen Jahren vier Finger seiner linken Hand im Krieg verloren. "Trotzdem spielt er sehr gut Fußball", sagt Azadzoy – und betont: "Der Sport ist eine Chance, aus dem Schlamassel heraus zu kommen."
Verglichen mit Spielern wie Kohestani, ist die bisherige Fußball-Laufbahn des Delmenhorsters sehr behütet abgelaufen. Mustafa Azadzoy war sechs Monate alt, als seine Eltern mit ihm und seinen fünf älteren Geschwistern aus der Heimat flüchten mussten. Die ersten Erfahrungen mit dem Ball am Fuß sammelte er Jahre später beim Delmenhorster BV, für den er bis zur B-Jugend auflief. Schnell wurde der technisch versierte Azadzoy auch für die größeren Klubs der Umgebung interessant. Es folgte der Wechsel in die Nachwuchsabteilung des VfL Oldenburg, später sicherte sich der Stadtrivale VfB die Dienste des Deutsch-Afghanen. In der Regionalliga kam Mustafa Azadzoy bisher zwei Mal zum Einsatz. "Ich hoffe, dass ich in Zukunft noch mehr Chancen bekomme. Mein großes Ziel ist es, Profi zu werden."
Als Nationalspieler dürfte der 20-Jährige diesem Vorhaben einen Schritt näher kommen – und selbst wenn nicht: Im Hause Azadzoy sind sie so oder so stolz auf ihren Jüngsten. "Alle unterstützen mich. Das ist wirklich schön", sagt Mustafa, dessen ältere Brüder Dariusch (TV Jahn Delmenhorst) und Harun (TSV Ippener) ebenfalls Fußball spielen. Um sich für den Rückhalt bei seiner Familie zu bedanken, hat sich der Delmenhorster etwas Besonderes einfallen lassen: "Wenn meine Familie mein erstes Länderspiel im Fernsehen sieht, werde ich sie grüßen." Spätestens dann dürfte Mutter Latifa endgültig bewusst werden, dass ihr Sohn sein Versprechen vom 11. Dezember 2011 wahr gemacht hat.