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39 Haftstrafen verhängt Mehr als 250 Jahre Gefängnis: So laufen die Bremer Encrochat-Prozesse

Erst rund ein Drittel der für Bremen erwarteten Encrochat-Prozesse ist abgeschlossen oder terminiert. Die Zwischenbilanz der bislang beendeten Verfahren fällt ernüchternd für die Angeklagten aus.
30.07.2022, 05:06 Uhr
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Mehr als 250 Jahre Gefängnis: So laufen die Bremer Encrochat-Prozesse
Von Ralf Michel

Schlechte Zeiten für Drogendealer und Waffenhändler in Bremen: 39 von ihnen wurden binnen eines Jahres zu Haftstrafen verurteilt. Noch sind die meisten dieser Urteile nicht rechtskräftig, aber Stand heute werden die Männer zusammengenommen 250 Jahre und neun Monate hinter Gefängnismauern verbringen. 24 der sogenannten Encrochat-Prozesse wurden zwischen Mai 2021 und Juli 2022 am Landgericht abgeschlossen, weitere 20 sind noch anhängig. Und das ist erst der Anfang. Angesichts der laufenden Ermittlungsverfahren mit Unmengen noch nicht gesichteter Daten wird für Bremen mit etwa 150 dieser Verhandlungen gerechnet.

"Encrochat" steht für das verschlüsselte Messengerprogramm eines 2014 in den Niederlanden gegründeten Software-Unternehmens und Dienstleistungsanbieters. Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass dieses Programm fast ausschließlich von Straftätern genutzt wird, Encrochat gilt als "Whatsapp für Kriminelle". 

2020 gelang es IT-Experten der französischen und der holländischen Polizei, den Server von Encrochat drei Monate lang zu infiltrieren. Vom April bis Juni konnten die Ermittler anschließend mitlesen, wie Nutzer des Dienstes über Rauschgifthandel, Waffenschiebereien, Erpressungen chatteten. Auch um Folter und Mord soll es dabei gegangen sein. 

Als Encrochat die Aktivität der Polizei bemerkte und im Juni 2020 seine Kunden warnte, kam das für viele von ihnen zu spät. Insgesamt waren Daten von etwa 66.000 Nutzern des Kryptochat-Anbieters gesichert worden. 4500 der Handys hatten einen Deutschlandbezug, wobei Bremen überproportional vertreten war – Daten von etwa 500 der deutschen Nutzer wurden Personen in Bremen zugeordnet. 

Encrochat-Daten waren wie ein Jackpot für Strafverfolger

Den Ermittlungsbehörden bescherte dies tiefe Einblicke in die kriminellen Strukturen des Drogen- und Waffenhandels. Nachdem die französische Polizei ihre Erkenntnisse an ihre Kollegen in ganz Europa weitergeleitet hatten, wurden mehr als 1800 Personen verhaftet, Drogen im zweistelligen Tonnenbereich sichergestellt, dazu weit über 100 Millionen Euro Bargeld sowie Waffen, Munition, Luxusuhren und Autos.

Encrochat gilt als Jackpot für die Strafverfolgungsbehörden, weil sie der Staatsanwaltschaft eine geradezu traumhafte Ausgangslage beschert: Wo sie Drogenhändlern sonst in mühsamer Kleinarbeit ihre Straftaten sozusagen grammweise nachweisen muss, bekommt sie hier die Beweise bergeweise frei Haus geliefert.

So weiß die Bremer Anklagebehörde zum Beispiel nicht einfach nur, dass am 4. April 2020 irgendwo in der Stadt ein Drogendeal über die Bühne ging. Nein, sie weiß, dass der Angeklagte um 11.19 Uhr für 4600 Euro bei seinem Lieferanten 950 Gramm Marihuana mit besonders hohem THC-Gehalt und vier Kilo Marihuana in Standardqualität für 3000 Euro pro Kilo bestellt hat.

Sie weiß, dass die Ware um 14.58 Uhr in einem Pkw an ihn übergeben wurde. Und sie weiß auch, dass der Angeklagte wenig später drei Kilo davon an einen seiner Kunden weitergegeben hat. Um exakt 15.40 Uhr, am Stern in Schwachhausen, für 4100  Euro das Kilo. Wie das eben so ist, wenn Rauschgifthändler im Vertrauen auf ihr vermeintlich abhörsicheres Kryptohandy vollkommen offen über ihre Geschäfte chatten. Und der Staatsanwaltschaft die Protokolle eben dieser Chats vorliegen.

Encrochat-Nutzer nannten sich "Explosiv Sugar" und "Marcus Germany"

Dem Bundeskriminalamt bescherten die Informationen aus Frankreich Millionen von Datensätzen. Die leitete das BKA an die zuständigen Ermittlungsbehörden in den Bundesländern weiter. Dort begann anschließend die eigentliche Puzzlearbeit. Denn auch wenn die Kriminellen weitgehend offen gechattet hatten, so nutzten sie dabei nicht ihre echten, sondern Alias-Namen. So kommunizierte in Bremen "Explosiv Sugar" mit "Medizinaldriver", verabredete sich "Endboss" mit "Markus Germany" oder "New Beta" mit "Old Wizzard". Diese Bezeichnungen galt es nun, gerichtsfest tatsächlichen Personen zuzuordnen.

Auf die Spur kamen die Ermittler den Tätern vor allem durch die Überprüfung der in den Chats erwähnten Standorte und Adressen sowie die Auswertung von WLAN-Profilen. Nicht selten halfen die Täter aber auch kräftig mit – indem sie zum Beispiel Selfies verschickten, Geburtstagsglückwünsche übermittelten oder Telefonnummern mit den echten Namen ihrer Lieferanten, Zwischenhändler oder Kunden abspeicherten. Andere, ohne Namen abgespeicherte Handynummern fanden sich im Auskunftssystem "Artus" der Bremer Polizei wieder und konnten auf diese Weise mit konkreten Personen in Verbindung gebracht werden.  

Bremer Encrochat-Ermittler müssen 1,8 Millionen Chatzeilen auswerten

Aus dem entschlüsselten Datenbestand haben sich in Bremen mehr als 160 Ermittlungsverfahren ergeben. Seit September 2020 wurden zahlreiche Häuser und Wohnungen durchsucht und Dutzende mutmaßliche Täter verhaftet. Einige der Ermittlungsverfahren haben zu Anklagen und Gerichtsprozessen geführt, andere sind derzeit noch in Bearbeitung, ein gutes Dutzend wurde eingestellt. Ein Großteil der Fälle ist nach wie vor unbearbeitet. Woran dies liegt, deutet die Zahl der Daten an, die ausgewertet werden müssen – allein in Bremen geht es um 1.885.318 Chatzeilen. 

Bis Juli 2022 wurde in 44 Verfahren Anklage gegen 63 Personen erhoben, in der Regel wegen Drogen- und Waffenhandels. Die 24 abgeschlossenen Prozesse am Landgericht endeten fast alle mit langjährigen Freiheitsstrafen für die Angeklagten. Zwölfeinhalb Jahre Gefängnis lautete die längste Strafe, zweieinhalb Jahre die kürzeste, im Schnitt landete jeder der Verurteilten für knapp sechseinhalb Jahre hinter Gittern. Aktuell sitzen in Oslebshausen 53 Männer ein, zwölf davon in Strafhaft, 41 in Untersuchungshaft, weil ihr Verfahren noch läuft oder das Urteil gegen sie noch nicht rechtskräftig ist.

Encrochat-Ermittlungen führen zu großen Drogen- und Waffendealern

Die Dimensionen dieser Verfahren zeigen weitere Zahlen: Die vom Landgericht in den 24  abgeschlossenen Prozessen verfügten Einziehungsbeträge liegen insgesamt bei mindestens 15,3 Millionen Euro. Dieser Wert gibt die vom Gericht errechneten Erträge wieder, die die Angeklagten in den ihnen zur Last gelegten Fällen erwirtschafteten.

Größtenteils geht es dabei um Einnahmen aus dem Rauschgifthandel. Weit über eine Tonne Cannabis und eine halbe Tonne Kokain wurden in den "abgehörten" drei Monate in Bremen mindestens umgesetzt. Im selben Zeitraum wurden über 100 Schusswaffen gehandelt, darunter Maschinengewehre, voll und halb automatische Waffen, Revolver und die entsprechenden Patronen sowie 20 Granaten. Auch eine Ladung Stoßzähne gehörte zu den von der Polizei in Bremen sichergestellten Waren. 

Was von den Taterträgen am Ende tatsächlich eingetrieben werden kann, lässt sich noch nicht abschätzen. Bis Ende 2021 konnten bei den Angeklagten Vermögenswerte wie Immobilien, Bargeld oder Pkw in Höhe von drei Millionen Euro gesichert werden. Aktuellere Zahlen kündigt die Justizbehörde für den Herbst an.

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