Felix Scheuerl ist ein guter Taucher, aber noch kein guter Schwimmer. Darum hatte er sich schon gefreut, dass für alle aus seiner Klasse bald Unterricht im Freizeitbad auf dem Stundenplan steht. Für alle außer ihn allerdings, sagt seine Mutter. Während die anderen nach Vegesack fahren, soll der Junge in der Rönnebecker Schule bleiben. Ärzte haben bei ihm Epilepsie diagnostiziert. Sein letzter Anfall liegt zwar anderthalb Jahre zurück, doch das allein reicht den Bremer Bädern nicht. Sie fordern eine Begleitperson, die sie selbst nicht stellen können – und die Mutter nicht sein darf.

Felix Scheuerl ist gern im Wasser. Tauchen kann er schon, aber noch nicht richtig schwimmen. Im Schulunterricht, sagt seine Mutter, kann er das nicht lernen: Weil ihr Sohn Epileptiker ist – und die Bädergesellschaft keine spezielle Assistenz übernehmen kann.
Cornelia Scheuerl sagt, dass sie nicht mehr weiter weiß. „Niemand“, sagt sie, „konnte bisher helfen“. Weder die Klassenlehrerin noch der Schulleiter, weder ein Mitarbeiter der Bädergesellschaft noch der Neurologe ihres Sohnes. Seit Monaten redet die Blumenthalerin mit Leuten, um zu verstehen, was ihr nicht einleuchtet: „Politiker sprechen dauernd von Inklusion – und trotzdem werden Schüler immer noch ausgegrenzt. Verbände beklagen immer wieder, dass Bremer Kinder so schlecht schwimmen – und dennoch soll mein Sohn es im Unterricht nicht lernen.“
Für Cornelia Scheuerl ist es verständlich, dass die Bremer Bäder kein Risiko eingehen und auf Nummer sicher gehen wollen. Doch warum man sie als Begleitperson ablehnt, will ihr nicht in den Kopf: Der Mutter fehlt das Abzeichen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Bronze, sagt sie, ist Minimum. Scheuerl hat auch ein Schwimmabzeichen, aber nur das allgemeine in Silber – und das langt nicht, um ihren Sohn freitags im Unterricht ins Hallenbad begleiten zu können. Dabei hatte sie immer gedacht, dass Eltern das letzte Wort haben, wenn es um die Aufsichtspflicht geht.
Scheuerl hat falsch gedacht. Wenn jemand einen Betreuer beim Schwimmen braucht, sagt Annette Kemp, läuft ohne das DLRG-Abzeichen nichts. Für die Sprecherin von Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) ist die besondere Qualifikation der Begleitperson ein unbedingtes Muss: „Das sind Auflagen, die dem Schutz des Kindes dienen sollen.“ Und die gelten nicht bloß in Felix Scheuerls Fall. Nach Kemps Statistik sind der Behörde für das neue Schuljahr bisher zehn Schüler gemeldet worden, die Epileptiker sind. Und zwei im Bremer Norden.
Schwimmmeister der Bädergesellschaft haben mehr als nur das DLRG-Abzeichen in Bronze. Eine Betreuung, wie sie bei Epileptikern vorgeschrieben ist, können sie trotzdem nicht leisten. Laura Schmitt, Sprecherin der Bremer Bäder, nennt sie Eins-zu-Eins-Assistenz. Ihr zufolge muss sich ein Schwimmmeister jedoch um alle aus der Klasse kümmern, sodass niemand eine Helferrolle für ein einzelnes Kind übernehmen kann. Nach ihrer Rechnung werden pro Woche im Schnitt 4200 Schüler in mehr als 100 Unterrichtseinheiten von bis zu 70 Mitarbeitern im Schwimmen unterrichtet.
Dass sie es schwer haben würde, ihren Sohn am Schwimmunterricht teilnehmen zu lassen, hat Felix‘ Mutter früh erfahren. Nicht von der Behörde, die die Auflagen macht, oder den Bremer Bädern, die die Auflagen umzusetzen hat. Sondern von einer anderen Mutter. Auch deren Tochter, sagt Cornelia Scheuerl, ist an Epilepsie erkrankt. Auch deren Kind musste machen, was jetzt ihr Sohn machen soll: eben in der Schule bleiben, während die anderen aus der Klasse ins Hallenbad fahren – „ein ganzes Schuljahr lang“. Scheuerl sagt das so, als könnte sie es immer noch nicht glauben. „Das kann man einem Kind, das schwimmen lernen will, doch nicht antun.“
Bewusstsein für Sekunden gestört
Die Mutter übt mit ihrem Sohn im Wasser, so oft sie kann. Mal im Hallenbad, mal im See, mal im Pool. Cornelia Scheuerl sagt, dass ihr Kind wie jedes andere aufwachsen soll – „ohne die ständige Sorge, es könnte gleich etwas passieren“. Um anfallsfrei zu sein, nimmt Felix Scheuerl regelmäßig Medikamente. Der Neurologe, erklärt die Mutter, hat vor Monaten entschieden, dass ihr Sohn niemanden mehr braucht, der ihn nach der Schule zum Hort begleitet. Schwimmen hält der Mediziner nach ihren Worten für eine gute Idee, auch ohne spezielle Aufsicht. Das will sie jetzt schriftlich von ihm.
Ob das ausreichen wird, ist fraglich. Wenn Felix Scheuerl tatsächlich ohne Begleitperson schwimmen lernen soll, meint Senatorensprecherin Kemp, dann muss ein Arzt ihn für epilepsiefrei erklären. Das Problem: Als geheilt gilt ein Epileptiker nach den Worten der Mutter erst dann, wenn er ohne Medikamente keine Anfälle mehr hat. Doch ihr Sohn nimmt eben noch Tabletten, damit es zu keinen Bewusstseinsstörungen kommt. Scheuerl: „Der Arzt geht zwar davon aus, dass Felix irgendwann auf Medikamente verzichten kann, nur jetzt noch nicht.“
Die Epilepsie, die vor Jahren bei Felix Scheuerl festgestellt wurde, ist eine spezielle Variante: Epilepsie mit Absencen heißt die. Anders als andere Epileptiker verliert der Junge nicht die Kontrolle über seinen Körper, stattdessen ist sein Bewusstsein für Sekunden gestört. „Geht er beispielsweise über die Straße und bekommt einen Anfall“, erklärt seine Mutter, „dann geht er weiter und weiß später nicht, dass er weitergegangen ist“. Nur am Augenzwinkern und Zucken der Mundwinkel, sagt sie, kann man erkennen, dass ein Epileptiker mit Absencen gerade einen Anfall hat.
Reicht das Attest des Arztes tatsächlich nicht, bleibt Cornelia Scheuerl keine Wahl. Dann muss sie jemanden finden, der nicht bloß das DLRG-Abzeichen hat, sondern auch Zeit, ihren Sohn zu begleiten. Oder darauf hoffen, dass glückt, was die Behörde laut Sprecherin Kemp versucht: eine Lösung zu finden, damit alle Kinder mit Epilepsie am Schwimmunterricht teilnehmen können. Ihr zufolge steht das Sportreferat jetzt im Austausch mit der DLRG.