Selbstbestimmt mit anderen jungen Leuten zusammenleben: Das wollte vor sieben Jahren auch die damals 22-jährige Ziehtochter von Lars Gerhardt. „Da mussten wir eben eine WG gründen – was man als Eltern halt so macht in seiner Freizeit. Wir wussten aber nicht, wie das geht und haben erstmal alle Träger abgeklappert“, erzählt der Hastedter. Denn: Die junge Bremerin hat das Downsyndrom. Bis ihr Wunsch im Oktober 2019 in Erfüllung ging und sie gemeinsam mit sieben Gleichaltrigen mit und ohne Beeinträchtigungen in eine WG im Blauhaus in der Überseestadt einziehen konnte, brauchte es deshalb viel Energie und Hartnäckigkeit.
Seinen dabei erworbenen Erfahrungsschatz gibt Gerhardt jetzt von Bremen aus an andere weiter, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen wie er damals: Seit 1. April leitet der Sozialpädagoge und ehemalige Radiojournalist die Bremer Wohnsinn-Regionalstelle Nord. Sie ist eine von bundesweit vier Regionalstellen, die mit Unterstützung durch die Aktion Mensch Stiftung, Business-Angel Joachim Schoss und andere Förderer für fünf Jahre eingerichtet worden sind, um – mit wissenschaftlicher Begleitung – inklusive Wohnformen in ganz Deutschland voranzubringen und andere bei der Planung und Umsetzung von Projekten zu unterstützen, in denen behinderte und nicht-behinderte Menschen selbstbestimmt und auf Augenhöhe zusammenleben.
Gerhardt ist über Jahre in dieses Thema hineingewachsen: Er fing an, sich auch in anderen Städten umzuhören und lernte auf einem Kongress Tobias Polsfuß kennen, der in einer inklusiven WG in München lebte. „Ich weiß noch genau, als er das dort vorgestellt hat“, sagt Gerhardt mit leuchtenden Augen. Polsfuß war Student und gründete 2016 eine Online-Plattform namens Wohnsinn, auf der sich fortan Interessierte über inklusives Wohnen austauschen konnten. Darunter auch Lars Gerhardt, der schließlich den Verein Inklusive WG Bremen mit auf den Weg brachte und Unterstützer und Partner fand, um Bremens erste inklusive Wohngemeinschaft einzurichten.
Für die kommenden Jahre viel Vernetzungsarbeit geplant
2018 war Gerhardt dann Mitbegründer des Bündnisses Wohnsinn für inklusives Wohnen, das aus dem Netzwerk hervorging. Und das wiederum feierte im November online mit etwa 200 zugeschalteten Interessierten den Start seiner vier Beratungsstellen in Bremen, Dresden, Köln und München. „Danach haben wir uns im Projektteam erstmal damit beschäftigt, inklusives Wohnen überhaupt zu definieren und Tipps und Materialien zu sammeln“, so Gerhardt, der in den kommenden Jahren mit Vorträgen, Schulungen, Vernetzungsarbeit und Begleitung inklusives Wohnen im norddeutschen Raum voranbringen möchte.
Beratungsgespräche führt der Hastedter überwiegend online, was tatsächlich nicht mit Corona zusammenhängt. „Am Anfang war immer mal in der Diskussion, dass wir rumfahren“, sagt er. Nach ersten positiven Erfahrungen mit Videokonferenzen schon vor der Pandemie habe sich diese Form der Kommunikation dann schnell etabliert. Schließlich ist Gerhardt Ansprechpartner für private Gruppen und Organisationen der Behindertenhilfe und der Wohnungswirtschaft in Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Er kann ein begrenztes Kontingent an kostenfreier Beratung anbieten und dabei auch Prozesse begleiten: „Vielleicht möchte eine kleinere Initiative erstmal nur wissen, was eine Leistungsvereinbarung mit einem Träger ist und was man dabei beachten muss. Zwei Monate später kommen sie dann mit der nächsten Frage wieder.“ Gerhardt hilft dann mit entsprechenden Auskünften weiter: „Und wenn ich etwas nicht weiß, dann nehme ich das mit ins Team.“
Auch Menschen mit Mehrfachbehinderung können in inklusiven WGs leben, wie die Erfahrung zeigt. Inklusives Wohnen kann dabei ganz unterschiedliche Formen haben. So wird die klassische inklusive WG mehrheitlich durch Studierende getragen, die nach dem Prinzip „Wohnen für Hilfe“ stundenweise ihren behinderten Mitbewohnern im Alltag und im Haushalt helfen. Kein Problem in der Großstadt, so Gerhardt: „Aber 100 Kilometer Richtung Nordsee sieht die Welt schon anders aus. Dort gibt es keine Studierenden und so stellt sich die Frage, mit wem da inklusives Wohnen möglich ist.“ Alternativen könnten zum Beispiel eine Haus-und-Hof-Gemeinschaft oder eine WG mit Azubis sein. Die zentrale Frage sei dabei immer, wie man wirklich Leben in so ein Projekt hineinbekomme, findet Gerhardt: „Wenn man das wirklich möchte, dann ist man bei uns richtig.“