Darf man die Kartoffel mit dem Messer schneiden? Und wo parkt man das Besteck, wenn der Teller nach dem Essen abgeräumt werden soll? Tischsitten und Manieren mag mancher für überkommen halten. Doch das Wissen könnte wichtig werden. Es gibt Branchen, in denen künftige Auszubildende und Mitarbeiter zum Vorstellungsgespräch ins Restaurant eingeladen werden. Ein Test für Umgangsformen, auf den Trainer wie Hartmut Hergert ihre Schützlinge gezielt vorbereiten.
Der Tanzsaal in der Bornstraße sieht an diesem frühen Samstagmittag gar nicht nach Walzerprobe aus. Kein Platz für Paare, die sich im Takt durch den Raum bewegen wollen. Stattdessen sind lange Tafeln mit Tischtüchern, Tellern, Bestecken und Servietten festlich eingedeckt worden. In Leuchtern flackert Kerzenlicht. Die Restaurantkulisse ist Teil des „Anti-Blamier-Kurses“, für den Teilnehmer ein paar Stunden später sogar Urkunden bekommen. Tanzlehrer Hartmut Hergert übernimmt an diesem Tag die Rolle des Trainers für Umgangsformen. Dafür ist er sogar zertifiziert. Von der Industrie- und Handelskammer.
Tobias, Christian, Jenny, Cord und die anderen interessiert diese Vorbildung ihres Lehrers zunächst einmal nur am Rande. Viel wichtiger ist, den eigenen Platz an den langen Tafeln zu finden, möglichst umgeben von Bekannten aus dem Tanzkursus. Glücklich dran ist, wer schon einen Partner, eine Partnerin für den Abtanzball an seiner Seite hat. Zu zweit ist der Weg zum Platz nicht ganz so schwierig. Wie soll man die vielen Meter unter den Augen der anderen zurücklegen? Wohin nur mit den Händen? In die Hosentasche oder einfach hängen lassen? Wie geht man lässig? Zumal, wenn man ungewohnterweise einen Anzug trägt oder hohe Schuhe zum kleinen Schwarzen. Ein paar Kursusteilnehmer haben die Ankündigung beherzigt, Jeans und Pulli daheim gelassen. Schließlich geht es ins schicke Restaurant. Das ist der Titel des Tages.
Ganz still ist es zu Beginn. Nur das Parkett, auf dem sonst Tanzschüler die Schritte von Foxtrott, Walzer, Cha-Cha-Cha oder Rumba im Takt eifrig mitzählen, knarrt unbeeindruckt vom besonderen Anlass. Für das „Anti-Blamier-Seminar“ hat Hartmut Hergert nicht nur einen Beamer installiert, der seinen Vortrag mit den wichtigsten Bemerkungen als Power Point-Präsentation auf die Leinwand wirft. Er trägt auch professionell ein Headset. Das schont die Stimme und sie erreicht über Lautsprecher selbst die Gäste im hinteren Saal.
Mit Respekt
„Umgangsformen sind wie Spielregeln beim Fußball und im Leben überhaupt“, setzt Hergert an. „Sie bedeuten Respekt und Aufmerksamkeit. Und jeder von euch möchte respektvollen Umgang“, leitet er die mehrstündige praktische Unterweisung ein. Drei Gänge werden die 14-, 15- und 16-Jährigen nun speisen, dabei erfahren, wie man der Dame neben sich den Stuhl heranstellt, ohne ihr die Kniekehle zu lädieren, wie man Essen und Getränke formvollendet bestellt und später damit umgeht. Dass Gäste nicht im Restaurant auf freie Plätze zustürmen, ist den meisten Kursusteilnehmern schon bekannt. Im Eingangsbereich warten, bis Restaurantmitarbeiter die Besucher zum reservierten Tisch leiten. So geht es richtig.
Früher, erzählt Hergert zwischendurch, habe sich die Tanzschule für das Seminar jedes Mal in einem richtigen Restaurant eingebucht, doch das sei für viele Teilnehmer zu teuer gewesen. So hat sich der Inhaber der Tanzschule Renz für die Restaurantkulisse im eigenen Saal entschieden. Das mehrgängige Mittagsmenü bringt ein Caterer. Und – auch aus pädagogischen Gründen wichtig für den Trainer – die Jugendlichen bedienen sich gegenseitig. Eine Gruppe ist für die Getränkebestellung und deren -ausgabe zuständig, die nächste kümmert sich um die Tomatensuppe und das Abtragen der Tassen, schließlich wird der Hauptgang serviert. Jedes Mal von rechts und immer mit der rechten Hand, versteht sich.
Beim Zuprosten lässt man den Gastgeber zuerst trinken, eine Sitte, die auf jene unsicheren Zeiten zurückgeht, in denen der Hausherr seinen Gästen möglicherweise mit Gift nach dem Leben trachtete. Doch wenn die Krüge kräftig aneinandergestoßen wurden, schwappte Wein vom einen in das andere Gefäß. Wenn der Gastgeber trotzdem trank, hatte er demnach nichts Böses vor. So viel Kraft wenden die Kursteilnehmer an diesem Sonnabend nicht auf, nur ein leises Klirren ist zu hören, als sie mit Cola und Mineralwasser anstoßen. Auch dass die Dame immer rechts vom Herren geht und sitzt, hat seinen Ursprung in der Vergangenheit. Als die Männer links noch ihre Säbel trugen, war es für die weiblichen Begleiter auf der anderen Seite sicherer und bequemer. Und sie behinderten ihre wehrhaften Partner auch nicht, falls er zur Verteidigung die Waffe ziehen musste.
Serviette auf dem Schoß
Geschichten wie diese über die Herkunft von Sitten und Gebräuchen sollen die Stimmung auflockern. Zu Anfang ist das nötig. Kaum jemand tuschelt mit seinem Nachbarn. Das wird sich ändern. Als die beinahe leer gegessenen Teller des Hauptgangs von zwölf ausgeguckten Schülern abgetragen werden, wird gefeixt. „Mensch, halt’ mal grade, die Soße läuft sonst runter.“ Unter dem Tisch stoßen Füße absichtlich aneinander, das Lachen wird lauter. Ein Glas fällt um. Die Angst, sich vor den anderen zu blamieren, ist offenbar verschwunden.
Tobias hat von sich aus beschlossen, am Kursus teilzunehmen, erzählt er zwischen Tomatensuppe und Hauptgang. Ein paar Sachen, verrät er, sind ihm neu. Dass die Serviette gefaltet mit der Öffnung zum Gast auf dem Schoß liegt und man den Mund mit der Innenseite abtupft, zum Beispiel. „Man kann gute Umgangsformen gebrauchen“, ist Kerstin sicher. Lucie auch. Sie finde es gut, am Kursus teilzunehmen. „Regeln sind wichtig“, sagt sie. Und Christian, der mit seinen Eltern oft in Restaurants geht, findet das auch. Cord allerdings glaubt: „Heutzutage sind Umgangsformen nicht mehr so wichtig wie früher. Es gibt nicht mehr so viele Gelegenheiten, sie zu zeigen.“
Da wird Hartmut Hergert im Laufe des Nachmittags mehrfach widersprechen. Zum Beispiel in der Versicherungsbranche, sagt er den Jugendlichen, komme es sogar oft vor, dass Arbeitgeber künftige Auszubildende und Mitarbeiter ins Restaurant einlüden. Das sei ein Test dafür, ob sie sich für die Unternehmen eigneten. Mit Kunden müssten Versicherungsmitarbeiter nämlich vielfach in Lokalen speisen. Und sich dabei möglichst gut benehmen.
Dafür ist es dann doch gut zu wissen, dass Messer und Gabel am Ende nebeneinander, das Messer rechts, auf dem Teller „auf 5 Uhr“ abgelegt werden und dass man die Suppentasse beim Auslöffeln des Rests leicht von sich wegkippt. Kartoffeln dürfen, so Hergert, nach neuen Benimmregeln übrigens mit dem Messer geschnitten, nicht mehr nur mit der Gabel durchgestochen werden.
Und wer am Ende behalten hat, dass der kleine Appetithappen vor dem ersten Gang ein „Gruß aus der Küche“ ist, im Französischen „Amuse-Gueule“ heißt und auf Kosten des Hauses auf den Tisch kommt, kann daran sogar eine kleine Konservation anknüpfen nach dem Motto „Wussten Sie eigentlich schon ...?“