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"Sunrise"-Zone im Bremer Viertel Bewohnerparken sorgt für Konflikte

Seit November 2020 gibt es im Steintor eine Bewohnerparkzone. Das Thema hat Konfliktpotenzial, denn die Zahl dieser Zonen wird in der nächsten Zeit zunehmen.
19.06.2021, 19:00 Uhr
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Bewohnerparken sorgt für Konflikte
Von Jürgen Theiner

Herrscht etwa Krieg im Viertel? Zumindest ein heftiger Streit muss wohl im Gang sein, wenn eine Bürgerinitiative auf den Plan tritt, die für "Mobilitätsfrieden" wirbt. Tatsächlich gibt es aktuell eine Kontroverse in einem Gebiet der östlichen Vorstadt. Es geht um verkehrspolitische Weichenstellungen, die weit über das unmittelbar betroffene Areal zwischen Horner Straße, Bismarckstraße, Sankt-Jürgen-Straße und Vor dem Steintor hinausweisen. Und letztlich um die Frage, welche Rolle der motorisierte Individualverkehr noch spielen soll, spielen darf in einer Stadt, die sich der Verkehrswende verpflichtet fühlt.

Ein Schlüsseldatum in der Auseinandersetzung war der 5. November 2020. An diesem Tag wurde die "Bewohnerparkzone 0" im Steintor Realität. Sie umfasst ein gutes Dutzend Straßen in dem genannten Gebiet. Bewohnerparken ist im Prinzip nichts Neues in Bremen. Solche Bereiche gibt es bereits in verschiedenen Stadtteilen – in der Regel dort, wo hoher Parkdruck herrscht. Verkehrsrechtlich sind diese Zonen so ausgestaltet, dass nur noch Anwohner gegen eine Jahresgebühr eine Parkberechtigung für ihr Kfz erhalten. Ein realer Anspruch auf einen Parkplatz ist mit dieser Berechtigung allerdings nicht verbunden. Wenn alles voll ist, ist eben alles voll. Wer nicht in der Bewohnerparkzone ansässig ist, muss an aufgestellten Automaten einen Parkschein ziehen, wenn er sein Auto einige Stunden im Straßenraum abstellen möchte. Das Ziel ist klar: Durch die Gebührenpflicht soll Parkdruck aus dem Quartier genommen werden. Dass in der Zone 0 die Belastung durch Fremdparker in der Vergangenheit hoch war, steht außer Frage. Gerade in den Abendstunden war für Anrainer oft kein Stellplatz mehr zu finden, weil Besucher der Viertel-Gastronomie die letzte freie Lücke vollgeparkt hatten.

Der Beschluss des Beirats Östliche Vorstadt zur Einrichtung einer Bewohnerparkzone im Viertel wurde bereits im September 2019 getroffen. Was das Projekt besonders macht, ist seine wissenschaftliche Begleitung und finanzielle Förderung durch das sogenannte Sunrise-Projekt der Europäischen Union. Das Akronym Sunrise steht für Sustainable Urban Neighbourhoods – Research and Implementation Support in Europe“ – frei übersetzt: nachhaltige Stadtquartiere – europäische Unterstützung in Forschung und Anwendung. Das kleine Quartier westlich der Sankt-Jürgen-Straße durfte sich also aufgewertet fühlen – zur Erprobungsstätte fortschrittlicher Verkehrskonzepte.

Für viele Anrainer der Zone 0 begann das Experiment jedoch mit einer unliebsamen Überraschung. Parallel zur Einführung des Bewohnerparkens beendete die Verkehrsbehörde die über viele Jahrzehnte tolerierte Praxis des aufgesetzten Parkens. Das Haus von Senatorin Maike Schaefer (Grüne) griff massiv durch und beseitigte rund 120 streng genommen illegale Parkplätze. Fahrzeuge dürfen seither nicht mehr halb auf dem Bordstein, sondern nur noch in entsprechend ausgeschilderten und markierten Bereichen am rechten Fahrbahnrand abgestellt werden.

In einem ohnehin chronisch überbelegten Straßenraum musste dieser drastische Einschnitt die motorisierten Anwohner empfindlich treffen. Michael Glotz-Richter, Referent für nachhaltige Mobilität im Verkehrsressort, räumt dies auch ein. "Dass das für Leute mit Autos eine gewisse Unbequemlichkeit bedeutet, lässt sich nicht leugnen", sagt der Experte aus dem Hause Schaefer. Das Sunrise-Projekt sei indes mehr als eine Neuregelung des Parkens. "Es geht um Straßenmanagement in einem weiteren Sinne", unterstreicht Glotz-Richter. Die Ansprüche an den öffentlichen Raum würden neu austariert: hin zu alternativen, umweltfreundlichen Mobilitätsformen wie ÖPNV, Fahrrad und Car-Sharing.

Glotz-Richters Kollegin Susanne Findeisen hält die getroffenen Maßnahmen für "alternativlos". Man habe den Parkraum auch deshalb reduzieren müssen, weil sich Müllabfuhr und Rettungsfahrzeuge häufig kaum noch einen Weg durch die engen Straßen bahnen konnten. Zwar sei es selbst für ein vorläufiges Fazit noch zu früh, doch die Verkehrsbehörde bekomme aus dem Viertel durchaus positive Rückmeldungen.

Es formiert sich jedoch auch Widerstand. Er sammelt sich unter anderem in der Facebook-Gruppe "Mobilitätsfrieden für Bremen", die inzwischen rund 150 Mitglieder hat, und in der Initiative "Bürger Östliche Vorstadt". Einer ihrer Akteure ist der Altverleger Klaus Kellner. Aus seiner Sicht ist der Bewohnerparkschein lediglich "ein kostenpflichtiges Ticket zur täglichen Parkplatzlotterie". Entgegen den Ankündigungen der Verkehrsbehörde habe sich die Parksituation im Sunrise-Gebiet nicht entspannt, auch wenn Fremdparker seit November Tickets ziehen müssen. Der abendliche Parksuchverkehr habe sogar noch zugenommen. Anwohner des Quartiers müssten ihre Autos inzwischen oft viele hundert Meter vom Haus entfernt parken, es gebe Ausweichbewegungen in angrenzende Ortsteile.

Die Sunrise-Kritiker sehen zudem manipulative Kräfte am Werk, die den Meinungsbildungsprozess im Quartier beeinflussen. Bei Bürgerbeteiligungen und Beiratssitzungen hätten sich in den vergangenen Monaten sehr häufig Aktivisten von Umwelt- und Verkehrswende-Initiativen in die Diskussionen eingeschaltet. Leute, die zwar in vielen Fällen nicht vor Ort wohnen, aber sehr entschieden für die Beschneidung des Parkraums eintreten. Es gebe Querverbindungen zwischen diesen Akteuren und der grünen Verkehrsbehörde.

Genannt wird unter anderem ein Mitarbeiter des Stabes von Maike Schaefer, der bis vor kurzem im Impressum der Website der Initiative "Platz da" aufgeführt war. Diese Gruppe fordert mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer und hat es im vergangenen Jahr mit einem Bürgerantrag geschafft, die rot-grün-rote Koalition zu einer wichtigen verkehrspolitischen Grundsatzentscheidung zu bewegen: Bis 2023 soll die Gebührenpflicht für innenstadtnahen öffentlichen Parkraum deutlich ausgeweitet werden und etappenweise die komplette Östliche Vorstadt sowie Schwachhausen, Findorff, Walle und die Neustadt erfassen. Mit der Ausdehnung der Parkraumbewirtschaftung dürfte auch die Zahl der Bewohnerparkzonen deutlich zunehmen.

Wie aber sieht das Meinungsbild unter den Anwohnern der Zone 0 wirklich aus? Wie bewerten die Betroffenen die Lage? Der WESER-KURIER hat vor einigen Tagen ein gutes Dutzend Gespräche in diversen Sunrise-Straßen geführt. Mit Alten und Jungen, mit Leuten mit und ohne eigenes Kfz. Es mag dem Zufall geschuldet sein, aber unter den Befragten fand sich niemand, der eine positive Einschätzung geäußert hätte. Das Günstigste, was man zu hören bekam, war die Aussage: Gut gemeint, aber schlecht gemacht. Das ist jedenfalls die Meinung von Silvia Hoffmann aus der Friesenstraße. "Am Suchverkehr hat sich nichts geändert", bedauert sie. Angekündigt habe man mehr Parkraum für Anwohner, faktisch sei aber das Gegenteil eingetreten. Die bereits laufende politische Diskussion über eine deutliche Anhebung der Jahresgebühr hält Hoffmann für verfehlt. "Das geht gar nicht. Ich möchte, dass die Erfahrungen mit dem Bewohnerparken erst mal sorgfältig ausgewertet werden."

Ute Knödler aus der Stedinger Straße hat nach eigenem Bekunden jahrelang auf eine Anwohnerparkregelung gehofft, ist mit der Umsetzung aber "mehr als unzufrieden". Sie brauche einen fahrbaren Untersatz aus beruflichen Gründen, und das gehe vielen in der Nachbarschaft so. Knödler: "Man kann nicht einfach Parkplätze streichen und glauben, dass sich die vorhandenen Autos in Luft auflösen." Die Anwohnerin hätte ein System vorgezogen, dass ausschließlich Anwohnerparken ermöglicht, nicht aber das legale Abstellen von Fremdfahrzeugen.

Familie Abd el Quadir aus der Lessingstraße ist im Begriff, wegen der neu entstandenen Situation aus dem Sunrise-Gebiet wegzuziehen. "Ich arbeite in Osterholz-Scharmbeck abseits jeglicher ÖPNV-Verbindungen, das geht nicht ohne Auto", sagt Ayhan Abd el Quadir. Neuerdings sei es jedoch nahezu unmöglich, bei der Rückkehr vom Arbeitsplatz einen Parkplatz in akzeptabler Entfernung zum Haus zu finden. Schräg gegenüber der Wohnung der Abd el Quadirs wohnt das Ehepaar Ramm. Auch dort geballte Unzufriedenheit. "Das Parken ist jetzt eine Katastrophe, besonders wenn man spät nach Hause kommt", sagt Peter Ramm. Die Jahresgebühr sei ein Witz. "Wir bezahlen dafür, noch länger zu suchen als vorher."

Dass sich manches noch nicht zurechtgerüttelt hat, zeigt sich auch in der massiv angestiegenen Zahl von Verwarnungen und abgeschleppten Fahrzeugen. Im Zeitraum von Mitte November 2020 bis zum 21. Mai verteilten Mitarbeiter der Innenbehörde fast 5000 Knöllchen im Sunrise-Gebiet und ließen 129 Fahrzeuge abtransportieren. Zuvor waren im Jahr 2020 bis Anfang November lediglich 33 falsch geparkte Autos entfernt worden. "Interessant ist sicherlich die Zahl von 101 Verstößen, die mit Anwohnerkarte begangen wurden", findet Behördensprecherin Rose Gerdts-Schiffler. "Wir können uns dieses Verhalten nur so erklären, dass Besitzer von Anwohnerkarten diese als eine Art Freifahrtschein bewertet haben."

Extrakosten fürs Parken ohne faktische Besserung der Situation bei gleichzeitigem rigorosen Vorgehen der Ordnungshüter: In der Politik dämmert inzwischen einigen Akteuren, dass beim Thema Parken gerade ein Frustpotenzial entsteht, das sich im Wahljahr 2023 entladen könnte. Noch mag der Unmut auf ein kleines Areal am Rande des Viertels begrenzt sein. Doch die grundsätzlich beschlossene Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung auf alle innenstadtnahen Stadtteile würde zehntausende Autofahrer treffen, die nicht über eine Garage oder einen privaten Stellplatz verfügen. Der "Mobilitätsfrieden" wäre dann flächendeckend gefährdet. Gerade in der SPD befürchten manche, dass ihnen das Thema auf die Füße fällt. Ihre Klientel sind nicht die von der Verkehrswende Beseelten, sondern die vielen "kleinen Leute", für die der Besitz eines eigenen Autos etwas Erstrebenswertes ist - ein Ausdruck bescheidenen Wohlstands und kein Anschlag auf das Weltklima. Man darf deshalb gespannt sein, wie geschickt sich die rot-grün-rote Koalition beim Einparken anstellt. Wer dabei zugleich Gas gibt und bremst, würgt den Motor ab.

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