Herr Kremming, der Chef des Deutschen Handelsverbandes sieht eine „Renaissance der Innenstädte“. Aus Bremer Sicht kommt diese Einschätzung angesichts von Leerständen, hohen Mieten und dem Dauerbrennerthema Sicherheit sehr überraschend.
Martin Kremming: Es gibt mehrere Städte, die sehr gut aus der Corona-Zeit herausgekommen sind und sich entwickelt haben. Von daher gibt es an manchen Orten tatsächlich eine Renaissance. Was wir in unserer Studie aber auch gesehen haben: Die Schere zwischen denen, die es geschafft haben, und denjenigen, denen es schlechter geht, diese Schere geht immer weiter auseinander.
In Bremen hat Sport Scheck die Innenstadt verlassen, Opti-Wohnwelt macht zu, Galeria schließt die Lebensmittelabteilung ...
… und das sind Entwicklungen, die wehtun. Deshalb kann man auch nicht davon sprechen, dass Bremen mit Rückenwind aus der Corona-Zeit kommt. Aber es gibt auch gute Ideen in der Stadt, zum Beispiel, dass die Uni an den Domshof gekommen ist. Und größere Projektentwicklungen wie das Balgequartier, an dem ja noch gearbeitet wird, entfalten ihre Wirkung erst noch.

Wenn ein neuer Laden eröffnet, wie hier Cinnamood vor einigen Monaten, bilden sich auf der Obernstraße auch schon mal Einkaufsschlangen.
Womit können Innenstädte überhaupt noch punkten?
Zunächst einmal ist es beruhigend, dass manche Prognosen aus der Corona-Zeit nicht eingetreten sind. Es standen ja befürchtete Besucherrückgänge von 20 Prozent und mehr im Raum. Die Menschen kommen aber nach wie vor in die Stadt. Sie haben die Stadt nicht abgeschrieben.
Mit welchen Erwartungen kommen die Menschen?
Es ist der Mix, der immer wichtiger wird. Gerade die Städte, die bisher nur über den Handel erlebbar waren, haben es am schwersten. Wir stellen fest, dass die Gastronomie eine immer wichtigere Rolle spielt. Das Thema Aufenthaltsqualität wird immer größer, Sicherheit und Sauberkeit sowieso, aber auch die Erreichbarkeit und Mobilität vor Ort.
Gehen wir die Punkte doch einmal durch. In der Studie heißt es zum Thema Erreichbarkeit und Mobilität, dass die Städte wegmüssten vom „Karossen-Kulturkampf“. Wie sieht es damit in der Realität aus?
Leider erleben wir auch dort eine Renaissance. In vielen Städten werden wieder die Diskussionen der 80er-Jahre geführt nach dem Motto, „Da will uns jemand ein Verkehrskonzept überstülpen“…
… da fällt einem Hannover ein, wo die autofreie City im Wahlkampf ein Kernanliegen des dann auch gewählten Bürgermeisterkandidaten war …
… und genau an diesem Punkt greifen die alten Reflexe, Blech gegen Zweirad. Die Händler sagen: Aber wir müssen doch erreichbar sein. Die Innenstadt stirbt, wenn vor meiner Tür nicht wenigstens fünf Pkw-Stellplätze erhalten bleiben. In Hannover zerreißt es die Koalition an diesem Punkt. Ein modernes Erreichbarkeitskonzept umfasst jedoch alle Verkehrsträger.

„Ein modernes Erreichbarkeitskonzept umfasst alle Verkehrsträger“, sagt Innenstadtexperte Martin Kremming.
Also das Auto, den ÖPNV und das Fahrrad.
Und den Fußgänger nicht zu vergessen. Die wenigsten Städte haben sich in den vergangenen Jahren Fußgängerkonzepte überlegt. Dabei ist am Ende jeder in der Stadt Fußgänger. In der Befragung ist herausgekommen, dass in nahezu jeder Stadt die Fußgängerbequemlichkeit, die Barrierefreiheit und Verweilmöglichkeiten verbessert werden müssen.
Zu Fuß sind Familien in der Stadt unterwegs. Die Deutschlandstudie macht Familienfreundlichkeit ausdrücklich zu einem wichtigen Thema. Wie wird eine Stadt familienfreundlich?
Wenn ich an Bremen denke, fallen mir da gleich ein paar Bilder ein. Der Spielplatz vor dem ehemaligen C&A zum Beispiel. Eigentlich könnte man sagen: Der liegt mitten in der Stadt, links und rechts gibt es Leerstand, dort klebt Taubendreck. Und was passiert? Der Spielplatz wird trotzdem stark frequentiert. Kinder klettern, rutschen, fahren Karussell. Das zeigt: Der Bedarf ist vorhanden.
In diesem Zusammenhang fällt immer auch der Ruf nach mehr öffentlichen Toiletten.
Das mag zunächst lustig klingen, aber es ist für das Gefühl, willkommen zu sein, ganz entscheidend, dass ich mein Kind nicht verschämt ins nächste Restaurant oder Geschäft schicken muss, damit es fragt, ob es dort vielleicht aufs Klo gehen darf. In Innenstädten braucht es eine Struktur, wie wir sie von der Autobahn mit ihren Raststätten kennen. Dort weiß ich, wo ich halten kann und wo ich hingehen muss. Es ist gesichert, dass die Toiletten sauber sind. Das gibt ein gutes Gefühl.
Sie haben die große Bedeutung von Sauberkeit und Sicherheit angesprochen. In Bremen hat das Innenressort mobile Polizeicontainer an mehreren Orten aufgestellt. Wie wirkt so etwas auf Gäste?
Viele Bremen-Besucher sind Wiederholungsbesucher. Die kennen die Probleme der Stadt und wissen, was sie erwartet. Die haben den beißenden Uringestank gerochen und die drogenabhängigen und alkoholkranken Menschen gesehen. Wer sich dadurch eingeschüchtert gefühlt hat, der wird eine größere Polizeipräsenz sicherlich als beruhigend empfinden. Ich glaube aber, dass das nur der Anfang eines Prozesses sein kann.
Der wie weitergeführt werden muss? Als ein Ansatz gilt, sich den öffentlichen Raum zurückzuholen, Plätze und Freiflächen zu bespielen.
Und das gelingt in einer Stadt wie Münster zum Beispiel. Sicherlich hat die Stadt den Vorteil, dass sie kleiner ist als Bremen und auch eine andere Sozialstruktur in der Bevölkerung hat. Aber Münster hat auch vieles richtig gemacht. Das Stadtbild ist gepflegt. Es gibt viel Bürgerbeteiligung. Münster bespielt die Innenstadt regelmäßig mit verschiedenen Formaten, mit Kunst und Kulturangeboten. Öffentlicher Raum wird inszeniert. Ich weiß, dass auch Bremen in dem Bereich etwas macht, mit der tollen Bühne auf dem Domshof zum Beispiel. Aber es gibt bestimmt noch Bereiche, die in Bremen unterspielt oder untergestaltet sind.

Kann Bremen sich das leisten? Kultur auf der Bühne auf dem Domshof beim Open-Space-Event.
Zur Bühne auf dem Domshof, aber auch zu anderen kulturellen Aktionen in der Innenstadt äußern sich die Bremer gern auch kritisch. Die Frage lautet immer: Ist dafür Geld da? Muss sich Bremen so etwas leisten?
Ich sage ja. Es gibt keine Alternative. Kultur gehört in die Innenstadt. Die Innenstadt war immer schon Treffpunkt. Wenn man diesen Weg verlässt, weicht man davon ab, wie Städte eigentlich einmal gedacht wurden. Jede Kleinkunstbühne ist wichtig. Das ist übrigens auch ein Grund für die Renaissance in den Städten, die in der Beurteilung der Besucher gut wegkommen.

Ein Karussell mit Spielplatz mitten in der Fußgängerzone: Laut Deutschlandstudie Innenstadt wichtig, damit Stadtzentren als familienfreundlich erlebt werden.
Den richtigen Mix in der Innenstadt haben Sie schon angesprochen. Dazu gehört seit einigen Jahren auch das Wohnen. Bremen schafft Wohnraum zum Beispiel in der Martinistraße, auch im ehemaligen C&A-Gebäude am Hanseatenhof soll gewohnt werden. Wie wichtig ist Wohnen im Zentrum?
Jede Wohneinheit ist wichtig. Sie bedeutet Kaufkraft. Die Mieter beleben nach Ladenschluss die Innenstadt. Aber man kann nicht erwarten, dass sich auf die Schnelle etwas verbessert. Es wird oft kompliziert, weil es um Fragen des Baurechts, der Flächennutzung und so weiter geht.
Geduld braucht es in Bremen auch bei der Neugestaltung am Parkhaus Mitte, das abgerissen werden soll. Was kann dort entstehen?
Erst einmal muss man den Bremern gut verklickern, dass das Verschwinden des Parkhauses nicht der nächste Todesstoß für die Innenstadt ist, sondern die frei gewordene Fläche ein Gewinn, eine große Chance.
Die Bremen wie nutzen sollte?
Bremen könnte dort ganz klassisch einen Mix aus Gastronomie, Einzelhandel und Dienstleistung im Erdgeschoss ansiedeln. Wohnen würde bestimmt auch eine Rolle spielen. Aber das wäre die Sicherheitsvariante. Am Parkhaus Mitte wäre auch der große Wurf möglich. Eigentlich gehört an diese Stelle ein Leuchtturmprojekt.
So etwas wie das Forum in Groningen?
Oder die Bibliothek in Helsinki. Von der bin ich ein richtiger Fan geworden.

Das Forum in Groningen: Es gibt Besucher, die kommen nur deshalb in die Stadt, weil sie es einmal gesehen haben wollen.
Erzählen Sie.
Im Untergeschoss hat man dort einen Empfangsbereich mit Café und Restaurant. Das Ganze ist als Treffpunkt angelegt. Es gibt überdachte Bereiche, auch Außenflächen, wo Kunst vorgeführt wird, wo sich Mengen von Menschen versammeln. Die Bücher gibt es ganz oben. Dazwischen befinden sich Abhängflächen, wie ich sie genannt habe. Wie in einem Amphitheater sitzen 40 oder 50 junge Leute auf Stufen. Es gibt Steckdosen, alle haben WLAN. Man kann sich auch Musikinstrumente ausleihen, dafür reicht der Bibliotheksausweis. Man bekommt eine Fendergitarre in die Hand gedrückt und hat gleich nebenan ein Studio. Alles war ausgebucht. Wow, hab‘ ich gedacht. Jung und Alt, jeder findet seine Ecke. Und jeder fährt hin, weil er das einmal gesehen haben will.
Abhängen statt konsumieren, ausleihen statt kaufen – das klingt nicht so, als würde man an diesem Ort viel Geld verdienen und Umsatz machen.
Es stimmt, dass einem diese Idee etwas wert sein muss. Betriebswirtschaftlich darf man da nicht rangehen. Es ist eher ein Invest in die Zukunft der Innenstadt. Aber jeder, der das in Aarhus, Groningen oder Helsinki einmal erlebt hat, kriegt einen Glanz in den Augen. Vielleicht sind wir Deutschen zu effizienzgetrimmt. Wir wagen nicht, so etwas zu denken. Dabei bekommt man so eine Chance wie am Parkhaus Mitte in Bremen vielleicht alle 50 Jahre einmal.
Das Gespräch führte Marc Hagedorn.

”Es gibt keine Alternative. Kultur gehört in die Innenstadt”, sagt Martin Kremming, Geschäftsführer von Cima. Die Agentur ist an der Deutschlandstudie Innenstadt beteiligt.