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Pflegenotstand Warum Bremer Krankenhäusern 3000 Pflegekräfte fehlen werden

Betten sind in Bremer Krankenhäuser vorhanden. Was fehlt, ist Fachpersonal. Mehr als 3000 Pflegekräfte werden in Bremen laut Arbeitnehmerkammer bis 2035 fehlen. Die Gründe liegen bei den Arbeitsbedingungen.
18.11.2021, 16:40 Uhr
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Warum Bremer Krankenhäusern 3000 Pflegekräfte fehlen werden
Von Lisa Urlbauer

Eine Konfettikanone explodiert, die Menge jubelt, Pop-Musik dröhnt aus den Lautsprechern. In wenigen Minuten wird sich die Menschenmasse in Bewegung setzen. Es ist ein Samstagnachmittag im Berliner Bezirk Neukölln. Mehrere tausend Menschen sind zusammengekommen, um zu demonstrieren. Es ist das Personal der Krankenhäuser Charité und Vivantes. Sie schwenken Gewerkschaftsfahnen und halten Protestschilder in die Luft. "Wir retten Leben, wer rettet uns?", fragt ein Transparent. Die Stimmung in der Menge liegt irgendwo zwischen Frustration, Wut und Hoffnung. Seit vier Wochen streikt das Berliner Krankenhauspersonal, nur den Notbetrieb stellen sie noch sicher. Was sie fordern: Entlastung und faire Bezahlung. Damit sind sie nicht allein: Bundesweit setzen sich immer mehr Beschäftigte in Kliniken für bessere Arbeitsbedingungen ein –mit Kundgebungen, Streiks und Demonstrationen. Auch in Bremen ist ein Bündnis aktiv.

Laut Arbeitnehmerkammer Bremer sind die Krankenstände sind in der Pflege besonders hoch und Pflegekräfte sind länger arbeitsunfähig als Beschäftigte aus anderen Bereichen – Tendenz steigend. Die Hauptursachen: Arbeitsverdichtung, längere Arbeitszeiten, mehr Verantwortung. "Es fehlt nicht in erster Linie an Betten oder Geräten, sondern an qualifiziertem, ausgeruhtem Personal", erklärt die Berliner Krankenhausbewegung. Sie vereint die landeseigenen Kliniken und wird von der Gewerkschaft Verdi unterstützt. Die Berliner wollen Entlastung und faire Löhne erstreiten – über feste Personalschlüssel, Freizeitausgleich und Tarifbindung. 

Bereits 2016 hatte die Belegschaft der Charité einen solchen Tarifvertrag verhandelt, der bundesweit als Vorbild genutzt wurde. Dieser ist aber mittlerweile ausgelaufen und Pflegekräfte neue Forderungen. Mehr als 8000 Beschäftigte hatten dem Berliner Senat und den Klinikvorständen deswegen ein Ultimatum von 100 Tagen gesetzt – ohne, dass sich die Arbeitgeber bewegt hätten. Ihr letzte Mittel: ein unbefristeter Streik. Auch das Bremer Bündnis für mehr Krankenhauspersonal kämpft seit einigen Jahren für bessere Arbeitsbedingungen. "Wir sind europaweit gesuchtes Personal. Und so wollen wir auch behandelt werden", sagt Bündnismitglied und Betriebsrat im Klinikum Links der Weser Roman Fabian. 

Fallpauschalen: Ursache des Personalmangels

Ein Blick zurück: 2003 wurde bundesweit die Krankenhausfinanzierung umgestellt und Fallpauschalen eingeführt. "Vor den Fallpauschalen wurden, vereinfacht gesagt, dem Krankenhaus die Kosten erstattet, die es mit dem Gesundmachen der Patientinnen und Patienten hatte", erklärt der Bremer Verdi-Gewerkschaftssekretär Jörn Bracker. Mit der Einführung der Fallpauschalen wurde ein Katalog erstellt, der vorgibt, für welche Krankheit es wie viel Geld gibt. Die neue Finanzierung hätte dazu geführt, dass Krankenhäuser schauen müssen, wie sie mit ihrem Geld zurechtkommen, sagt Bracker. Vor allem kommunale Einrichtungen hätten infolgedessen Pflegepersonal entlassen, um finanzielle Lücken zu schließen. Die Fallpauschalen hätten Kliniken, vor allem private, aber auch in die Lage versetzt, Gewinne einfahren zu können.

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Welche Auswirkungen das in Bremen gehabt hat, zeigt das statistische Jahrbuch: Gut 1300 Mediziner haben 1995 in den Bremer Krankenhäusern gearbeitet, dazu fast 11.000 Beschäftigte in Bereichen wie der Pflege oder Verwaltung. Bis 2018 ist die Zahl der Ärzte auf gut 2000 angestiegen; das nicht-ärztliche Personal hat um mehr als 1500 Beschäftigte abgenommen. Die Zahl der jährlich behandelten Patienten ist gleichzeitig um mehr als 42.000 Menschen gestiegen. "Wenn man für eine bestimmte Krankheit eine bestimme Summe bekomme, dann möchte man auch, dass der Patient möglichst kurz bei mir im Haus liegt, damit ich möglichst schnell wieder den nächsten Patienten kriege", sagt Bracker. Für das Pflegepersonal ist die Arbeitsbelastung damit gestiegen. Das Ergebnis: Immer mehr Fachkräfte fliehen aus dem Beruf. Nach Informationen der Arbeitnehmerkammer wird für Bremen mit einer Lücke von mehr als 3000 Fachkräften bis zum Jahr 2035 gerechnet. Aktuell fehlen laut Bracker zwischen 8000 und 1000 Beschäftigte.

Berlin als Vorbild

Immer wieder müssen Pflegekräfte deswegen in Unterbesetzung arbeiten. Auch, wenn seit 2017 Personaluntergrenzen gelten, die eine Mindestbesetzung auf Station vorgeben – allerdings gelten diese nicht überall. "Nur wenige Bereiche, wie die Schlaganfall- und Intensivstation, sind darin einbegriffen", sagt Bündnismitglied Ariane Müller. Doch auch in diesen Bereichen würden die Minimalanforderungen oft nicht erfüllt, berichtet die Krankenschwester aus dem Klinikum Bremen-Mitte. "Obwohl auf der Intensivstation schon zwölf Betten gesperrt worden sind, reicht das Personal nicht aus. Unter diesen Bedingungen gehen aber noch mehr Leute weg", sagt Müller. Die Strafzahlungen, die Krankenhäuser in solchen Fällen zahlen müssen, seien nicht genug, um die Situation der Beschäftigten zu verbessern. Es brauche einen verbindlichen Personalschlüssel. Die hatte das Bremer Pflegebündnis in einem Volksbegehren versucht einzufordern. Das hat der Staatsgerichtshof allerdings zurückgewiesen. Die Begründung: Bremen kann die Personalbemessung nicht bestimmen, das muss der Bund machen. 

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Wir brauchen streitbare Kollegen, die sich einsetzen. 
Betriebsrat im Klinikum Links der Weser Roman Fabian.

Bleiben die tariflichen Lösungen: Laut Berliner Krankenhausbewegung hat Verdi in bundesweit 17 Großkrankenhäuser Entlastungsvereinbarungen erstritten. Auch die Berliner konnten sich nach vierwöchigen Streit nun auch auf Eckpunkte für ihre Belegschaft einigen; aus den Papieren soll ein Tarifvertrag ausgearbeitet werden. Können diese Erfolge auch für Bremen ein Vorbild sein? Ja, sagt Gewerkschaftssekretär Bracker – wenn sich mehr Beschäftigte gewerkschaftlich organisieren. "Dann würde ich hier auch einen Tarifvertrag Entlastung aushandeln." 

Auch das Bremer Pflegebündnis will mehr Kollegen für ihr Engagement gewinnen. Dafür blicken sie vor allem auf das kommende Frühjahr. "Im nächsten Jahr sind wieder Betriebsratswahlen", sagt Fabian. "Wir brauchen streitbare Kollegen, die sich einsetzen. Sozialpartnerschaftlich geht das nicht mehr."

Zur Person

So kommen Pflegekräfte zurück 

Wann Pflegefachkräfte wieder zurück in den Beruf gehen oder ihre Stunden aufstocken würden, hat die Arbeitnehmerkammer zusammen mit der Universität Bremen untersucht. Dabei sind sie laut Projektkoordinatorin Jennie Auffenberg zu fünf wichtigen Punkten gekommen, um Personal zurückzugewinnen: Ein wertschätzender Führungsstil von Vorgesetzten, mehr Zeit für eine fachlich hochwertige Pflege und menschliche Zuwendung, einschließlich einer bedarfsgerechten Personalbemessung, Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung, verlässliche Arbeitszeiten sowie ein höheres Gehalt. Zwischen 800 und 1500 aus dem Beruf ausgestiegene Bremer Arbeitnehmer oder bisher in Teilzeit beschäftigte Pflegekräfte würden in Vollzeit in der Pflege arbeiten, wenn sich die Situation verbessert. Auf Deutschland hochgerechnet ergibt sich ein Potenzial von 90.000 bis 170.000 Vollzeitkräften. Bis Ende Oktober lief die bundesweite Erhebung "Ich pflege wieder, wenn...", an der sich laut Auffenberg mehr als 12.000 Pflegekräfte beteiligt haben. An der Pilotstudie in Bremen hatten mehr als 1000 teilgenommen. Die Ergebnisse werden im März kommenden Jahres veröffentlicht.

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