Volle Hütte im Musical-Theater, denn das Fernsehen war da. RTL hat die erste Runde seiner Show "Das Supertalent" aufgezeichnet. Viele Bremer träumen davon, ins Finale einzuziehen - sie wären nicht die ersten.
„Kevin?“, fragt die Frau an der Tür in ihr Headset. „Kevin, können wir?“ – „Joo!“, brüllt Kevin von unten, er steht am Saaleingang des Musical-Theaters und reckt den Daumen nach oben. Sie öffnet die Türen. „So Leute, jetzt geht’s los!“, ruft sie, und die Menschen recken aufgeregt die Köpfe in ihre Richtung, manche jubeln und klatschen sogar. Mehr als 1000 von ihnen sind gekommen, manche warten schon seit drei Stunden vor dem Eingang. Jetzt, um halb drei am Nachmittag, ist es soweit: Die Aufzeichnungen zur RTL-Show „Das Supertalent“ beginnen.
Keanu Irle lehnt oben am Geländer des Treppenhauses. Der Zehnjährige ist gerade vom Soundcheck zurückgekommen, hat noch einmal seinen Auftritt geprobt. „Irgendwie klingt meine Stimme viel höher durch das Mikrofon“, erzählt Keanu seiner Mutter Michaela und seiner Schwester Leyla Irle. „Aber egal, ich pack das schon.“ Statt des Mikros führt er jetzt erst einmal die Gabel zum Mund, Spaghetti zur Stärkung für den Auftritt. Hoffentlich geht alles gut.
Von Träumen und Wünschen
Im Backstage-Bereich nebenan, einem langen Raum mit weißen Sofas, Kronleuchtern und Schminktischen, auf denen Papp-Kaffeebecher stehen, übt die 13-jährige Antonia vor einem riesigen Spiegel. Aus ihrem Handylautsprecher scheppert ein Lied, sie singt dazu „Lass jetzt los“ aus dem Musical „Die Eiskönigin“. Sie selbst will mal Darstellerin in einem Stück werden, erzählt sie später der Jury, und nimmt dafür Gesangsunterricht. Ihre Freunde haben sie motiviert, sich zu bewerben.
Michaela Irle musste ihren Sohn eher bremsen. „Er will schon seit Jahren zu den Castingshows“, sagt die 42-Jährige. Jetzt sei er soweit, sagt sie: „Er hat´s voll drauf.“ Nur die Schulleitung, die wollte ihr das Vorhaben ausreden. „Da mussten wir ganz schön für kämpfen, dass Keanu heute freigestellt wird.“ Der Sechstklässler habe gute Noten, und das soll auch so bleiben, das sei die Voraussetzung dafür, dass seine Mutter ihm eine Teilnahme erlaubt. „Die Schule ist die Bühne für das Gehirn, und Supertalent ist die für sein Können.“
Können und können wollen, das sind zwei unterschiedliche Dinge bei dem TV-Format, das auch davon lebt, dass Menschen sich und ihre Fähigkeiten überschätzen. Das Prinzip der Castingshow ist simpel: Menschen bewerben sich – dieses Jahr waren die Talentsucher an 41 Orten unterwegs – und manche werden auch vom Produktionsteam eingeladen, um ihre vermeintlichen Talente zu präsentieren. Die Show geht in die neunte Runde, fährt seit drei Jahren konstante Werte von um die fünf Millionen Zuschauer ein sowie Marktanteile von etwa einem Viertel in ihrer Zielgruppe. Die Zahlen waren aber auch mal besser.

Der vierjährige Dragan (links) hat mit seinem fünfjährigen Bruder Georg zur Musik von Michael Jackson getanzt.
Schon manch ein Finalist kam aus dem Land Bremen, Hip-Hop-Tänzer Marcel Pietruch (2008) und Sänger Oliver Römer (2009) etwa, und die Bremer scheinen sich für das Format begeistern zu können: Alle Aufzeichnungstermine bis Montag sind ausverkauft, jeden Tag kommen etwa 2000 Menschen – manche sogar aus dem tiefen Süden der Bundesrepublik. Ein Ticket kostet etwas mehr als zwölf Euro; zuletzt wurden die Eintrittskarten bei einem Coupon-Anbieter verkauft, zwei Tickets für zehn Euro. So kriegt man den Saal voll.
Wobei: Jetzt, kurz vor der Aufzeichnung, sind noch ein paar Sitze frei, ausgerechnet in der Mitte. Einige der 180 mitgereisten Supertalent-Mitarbeiter weisen die Zuschauer zum Aufrücken an, dann kommt auch schon der Mann für das Warm-Up. Er macht Witze über Sex und Fußball, das eigene Aussehen, und die Leute lachen, klatschen, machen alles mit. Auch die verschiedenen Applausarten, zu denen später aufgerufen wird. Die Kamera läuft – vielleicht kann man das Material von jubelnd-aufspringenden, herzhaft-lachenden oder wütend-buhenden Zuschauern später noch irgendwo zwischenschneiden.
Moderator Daniel Hartwich schlendert kurz raus und macht das, wofür RTL ihn mittlerweile fast rund um die Uhr einsetzt: lästern. Über die Jury aus Bauernkupplerin Inka Bause, Laufstegtrainer Bruce Darnell („der weder Deutsch noch Englisch spricht, sondern Puzzle“) und über Musikproduzent Dieter Bohlen („der noch beim Stuckateur ist“). Dann begrüßt er sie und geht anschließend in den Backstage-Bereich, von wo aus er die einzelnen Darbietungen, teils süffisant, kommentieren wird.

Der 22-jährige Kai Hou aus China zeigt er Jury, was er drauf hat.
Talent Kai Hou kommt auf die Bühne, springt mit Anlauf durch einen Ring, den ein 1,80 Meter großer Typ mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf hält. Der vierjährige Dragan tanzt mit seinem fünfjährigen Bruder Georg zu Michael Jackson, der Ukrainer Viktor Andriychenko spielt auf der Geige und singt dazu mit glockenklarer Stimme ein Stück aus der Oper „Carmen“. Viktoria präsentiert ihren Musicalsong, und Julia aus Hamburg einen Hit von Celine Dion.
In den Pausen wird die Jury gepudert; Darnell schiebt sich Gummibärchen in den Mund, Bohlen nimmt seine kleine Tochter auf den Schoß. „Bremen“, sagt er dann und wendet sich zum Publikum, „ich glaube, ihr seid die Stadt mit den meisten Blitzern auf diesem Planeten. Ich habe so eine App auf meinem Handy, die mich warnt – die ist beinahe kollabiert!“ Er tippt sich gegen die Stirn. „Ey, Du fährst hier rein und hast ’nen Führerschein, und dann fährst du raus und hast keinen mehr.“
Schließlich steht Keanu auf der Bühne, Position 6. Locker schlenkert er mit den Armen. Auf dem einen steht der Name seines Idols, Kay One, mit Füller geschrieben. Eigentlich war sein Künstlername Kay Two, aber so heißt schon der Butler von Kay One, also nennt er sich jetzt Freezy. „Ist auch cool.“ Kurzer Plausch mit Dieter, dann singt er und rappt und zappelt und tanzt, ruft „Ich will eure Hände sehen!“ Das hier, das ist sein Traum. Ob er weitergeht oder platzt, zeigt RTL im Herbst.