Alle ihre Auszubildenden sind der Hausärztin Brigitte Sauter derzeit abhandengekommen. Die drei angehenden Medizinischen Fachangestellten (MFA) in ihrer Praxis in Habenhausen sind als Kontaktpersonen ersten Grades aktuell unter Quarantäne gestellt. Der Grund: In allen Fällen gab es Infektionen an der Berufsschule, die die drei Ausbildenden besuchen. „Angesichts solcher Konsequenzen stelle ich mir schon die Frage, ob der Präsenzunterricht zwingend notwendig ist“, sagt Sauter.
Der zeitweise Wegfall der drei Angestellten ist dabei für Sauter noch das kleinste Problem, zumal im Vordergrund die Ausbildung stehe und erst in zweiter Linie ihre Rolle als Arbeitskraft. Die Ärztin macht sich aber Sorgen um ihre übrigen Angestellten und nicht zuletzt um ihre Patienten. „Bevor meine Ausbildenden jeweils vom Gesundheitsamt über ihren möglichen Kontakt zu einem Corona-Infizierten informiert wurden, waren sie auch wieder bei uns in der Praxis tätig.“ Das bedeutet aus Sicht der Ärztin vor allem engen Kontakt zu besonders gefährdeten Menschen mit chronischen Erkrankungen, älteren Personen und multimorbiden Patienten, die mehrere gesundheitliche Probleme parallel plagen.
Sollte es außerdem eine Corona-Ansteckung innerhalb der Belegschaft geben, brächte dies die Praxis komplett zum Erliegen. „In so einem Fall müssten wir schließlich alle in Quarantäne“, sagt Sauter. Um weiter dem Versorgungsauftrag als Hausarztpraxis nachkommen zu können, sollten sich daher nach ihrer Ansicht in den Berufsschulen die Infektionswege nicht weiter durchmischen und potenzieren. „Was spricht denn gegen die Fortführung des Online-Unterrichts vom Frühjahr für die Berufsgruppen, die in medizinischen oder pflegerischen Bereichen arbeiten?“, fragt die Ärztin.
„Dass für alle Auszubildenden eine ordnungsgemäße Ausbildung auch in den Berufsschulinhalten sichergestellt sein muss“, antwortet Heidrun Gitter, Präsidentin der Bremer Ärztekammer. Und auch die Bildungsbehörde sieht das ähnlich: „Der Distanz-Unterricht kann den Präsenz-Unterricht nicht dauerhaft ersetzen. Das ist gerade bei dem Niveau der MFA problematisch“, sagt Annette Kemp, Sprecherin der Bildungssenatorin. Das Problem der Habenhauser Ärztin betrachtet die Behörde zudem als insgesamt überschaubar.
Einzelfälle in unterschiedlichen Klassen
Zurzeit gebe es insgesamt fünf positiv getestete Covid-19 Fälle bei Schülern und Schülerinnen im Ausbildungsberuf Medizinische Fachangestellte. „Es handelt sich aus unserer Sicht um Einzelfälle in fünf unterschiedlichen Klassen.“ Betroffene Auszubildende und Lehrkräfte seien in Quarantäne und getestet worden. „Momentan schätzen wir die Situation noch nicht als so problematisch ein, als dass wir auf Präsenzunterricht verzichten. Und natürlich werden Schülerinnen und Schüler in Quarantäne digital in Distanz unterrichtet“, sagt Kemp.
Gitter bewertet die erhöhte Ansteckungsgefahr angesichts der allgemeinen Infektionszahlen als bekanntes Risiko für alle Beschäftigten im Gesundheitswesen. „Jede und jeder kann sich jetzt leichter anstecken, auch im privaten Umfeld, nicht nur im Unterricht“, macht sie deutlich. Deshalb müssten alle Mitarbeitenden im Gesundheitswesen größtmögliche Vorsicht walten lassen und sich in jeder Situation am Arbeitsplatz, in einer Berufsschule sowie im privaten Umfeld umsichtig verhalten und die Infektionsschutzregeln beachten. „Die Auszubildenden zur Medizinischen Fachangestellten sind sicherlich eine Gruppe, die diese Regeln besser kennt als andere junge Erwachsene.“
Aber es seien auch eben junge Menschen mit einem gewissen Freiheitsdrang, meint dagegen Sauter. „Im Alltag an den Berufsschulen wird zum Beispiel die Maskenpflicht weder konsequent beachtet, noch werden mögliche Verstöße sofort angesprochen und geahndet.“ Auch das Abstandsgebot werde mit Sicherheit nicht immer eingehalten. „Außerdem gab es im Unterricht bislang keine Maskenpflicht.“ Wenn es schon Präsenzunterricht geben müsse, fordert Sauter für ihn eine durchgängige Maskenpflicht, nicht erst ab 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen.
Nachlässigen Umgang mit den Regeln bestätigt auch Gitter. „Ich treffe selbst öfter Schülerinnen und Schüler in Gruppen ohne Abstand und Mund-Nase-Schutz vor den Schulen oder sogar auf dem Schulgelände an.“ Vor allem bei der Einteilung der Schüler in Kohorten, zumeist nach Jahrgängen sortiert, die eine zu große Durchmischung verhindern soll, sieht sie ein grundsätzliches Missverständnis. „Die Kohorte dient ausschließlich der Eingrenzung einer potenziellen Infektion, das heißt der Begrenzung eines möglichen Clusters.“ Sie könne aber die Ansteckung selbst nicht verhindern, das könne nur Abstand, Maske und Hygiene. „Hier bestehen offenbar immer noch Wissensdefizite.“
Corona-Infektion an Schulen in Deutschland
Bundesweite amtliche Informationen über die Zahl der von Corona-Infektionen betroffenen Schulen und Schülern gibt es nicht. Das Robert Koch-Institut weist mit Stand vom 10. Oktober seit Beginn der Pandemie insgesamt 10.665 Infektionen von Kindern und Jugendlichen in Kitas, Horten, Schulen, Heimen und Ferienlagern aus.
Für das dort beschäftigte Personal werden 5130 Infektionsfälle genannt. Da die für diese Statistik notwendigen Angaben zu Betreuung, Unterbringung und Tätigkeit bei 26 Prozent der übermittelten Fälle fehlen, sind die Zahlen als Mindestangabe zu verstehen. Unbekannt ist zudem, wie hoch der Anteil derer ist, die sich auch in den Einrichtungen angesteckt haben.
Auf Initiative einer Hamburger Lehrerin werten seit Beginn des laufenden Schuljahres inzwischen zahlreiche Helfer auf Twitter unter dem Hashtag #bildungabersicher in ganz Deutschland lokale Pressemeldungen über Corona-Infektionen an Schulen und Kindergärten aus. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gab es demnach im August Krankheitsfälle an 595 Schulen und in 181 Kitas bundesweit.
Im September wurden auf diesem Weg Infektionen an 1905 Schulen sowie 489 in Kindertagesstätten ermittelt. Für den Oktober liegen die Zahlen aktuell bei 886 an Schulen und 233 in Kitas. Insgesamt gibt es bezogen auf das Schuljahr 2019/20 in Deutschland 32.332 allgemeinbildende Schulen und rund 57.600 Kitas.