Seit knapp 40 Jahre engagiert sich Jens Schröter für den Landesverband Alleinerziehender Mütter und Väter in Bremen. Im Interview spricht er über sein Engagement, seinen Werdegang und Armut in Bremen.
Sie sind unter anderem europäischer Delegierter der Nationalen Armutskonferenz (NAK). Dafür reisen Sie durch Europa. Ist es da nicht etwas unpraktisch, keinen Pass zu haben?
Jens Schröter: Ja, vor allem seit die Grenzen strenger kontrolliert werden. Aber ich kriege es irgendwie hin. Genauso wie bei anderen Dingen, ich habe auch keinen Wohnsitz, keine Heizung, kein Telefon, kein Konto...
...sie sind obdachlos?
Ich habe schon Möglichkeiten unterzukommen. Aber ich bin nicht der klassische Wohnungslose. Es gibt ja keine Pflicht sich zu melden.
Womit bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?
Ich bin Erwerbsunfähigkeitsrentner und schwerbehindert seit einem Unfall. Ich beziehe eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente und bin deshalb ausgeschlossen aus dem Bezug des SGB II …
...was die meisten als Hartz IV kennen...
Ich sage immer SGB2. Es gibt keinen Grund, so etwas nach einem Straffälligen zu benennen. Und sagen Sie bitte auch nicht „sozial schwach“. Die Menschen, die wenig verdienen und gerade die Alleinerziehenden sind sehr sozial stark. Die jobben, erziehen und müssen sich täglich ums Einkommen bemühen. Sozial schwach sind andere, die ganz andere Möglichkeiten haben, Geld an der Steuer vorbei zu schaffen.
Ohne Anstellung haben Sie doch sicher viel Zeit. Wofür nutzen Sie die?
Sie irren. Viel Freizeit habe ich nicht. Seit 30 Jahren komme ich mit wenig Schlaf aus. Mit meinen Ehrenämtern leiste ich im Rahmen ehrenamtlicher Beschäftigung mehr, als wenn ich angestellt wäre. Dies gilt im Übrigen auch für die Wochenenden.
Was machen Sie beim Landesverband Alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV)?
Zuletzt war ich Vorstandsvorsitzender. Früher habe ich mehr als 20 Jahre lang rechtliche Beratungen für Alleinerziehende angeboten. Vor allem kommen Frauen zu uns, die etwa 90 Prozent der Alleinerziehenden in Bremen ausmachen. Die meisten haben niedrige Einkommen. Daraus ergeben sich oft rechtliche Probleme. Viele Alleinerziehenden erhalten für ihr Kind und sich selbst Unterhalt, da sie selbst nicht in der Lage sind, den diesen aufzubringen. Zwei Haushalte zu finanzieren, ist für die meisten unmöglich. Ich berate in solchen Angelegenheiten seit ich damals selbst alleinerziehend war, mit zwei Kindern. Ich habe in einem Katalog der VHS einen Bildungsurlaub in Tossens gefunden und hab mich mit den Leuten vom VAMV gleich sauwohl gefühlt.
In wie fern?
Ich traf dort Menschen, die die gleichen Probleme hatten wie ich. Das war eine richtige Gemeinschaft. Man half sich beim Renovieren und Umziehen. Und es zog ständig jemand um. Die Kinder waren immer dabei. Wir waren eine tolle Truppe. Da waren viele 68er dabei, die hatten Power. Wir sind damals auch auf die Sozialdemos gefahren oder vor die Ämter, um dort Flugblätter zu verteilen und die Leute zu motivieren, ihre Rechte wahrzunehmen. Gleich zu Anfang habe ich versucht, meine Erfahrungen einzubringen und mit anderen zu teilen.
Welche Erfahrungen?
Ich hatte ja den Unfall. Deshalb kannte ich mich schon gut mit Behindertenrecht aus. Und auch für die Sozialhilfe habe ich mich interessiert. Ich habe irgendwann für mich entschieden, wenn du dein Leben so gestalten willst – eine neue Bindung kam für mich nicht in Frage – dann musst du Verantwortung übernehmen. Ich musste oft klagen und habe mich immer selbst vertreten. Wenn ein Gesetz für mich zuständig wurde, habe ich mir die entsprechenden Gesetzbücher gekauft und auswendig gelernt. Ich habe mir viel angelesen und so ein juristisches Wissen angehäuft.
Dafür hatten Sie die Zeit als Alleinerziehender?
Durch die Gemeinschaft. Wir haben uns gegenseitig entlastet und dann später zum Beispiel gemeinsam für die Abiturprüfung gelernt. Ich bin damals fünf mal die Woche nach Hamburg gefahren für eine Weiterbildung. Wenn ich mit dem Zug an unserer Wohnung in Findorff vorbei fuhr winkte ich morgens immer den Kindern und holte sie am späten Nachmittag im Hort ab. Später habe ich studiert, offiziell Bauingenieurwesen. Aber im Endeffekt habe ich die meiste Zeit der zehn Jahre meines Studiums bei den Juristen gesessen (lacht.). Es ist ein Hobby geworden, Lücken, die es in fast jedem Gesetz gibt, zu finden. Das fand ich spannend. Damals war Sozialhilfe ja noch Verwaltungsrecht. Deswegen bin ich dann irgendwann ehrenamtlicher Richter geworden, acht Jahre am Oberverwaltungsgericht und acht Jahre am Verwaltungsgericht in Bremen. Das Ende vom Lied war, dass ich Lehrbeauftragter für Sozialhilferecht an einer Hochschule gewesen bin.
Vom Handwerker zum Richter. Das klingt, als hätten Sie die Wahl, auch ein eher konventionelles Leben zu führen. Wieso nicht ein betulicheres Leben mit Heizung und festem Wohnsitz?
Wozu denn? Ich bin viel unterwegs. Ich will etwas bewegen und auch anderen helfen, die wie ich Armutserfahrung haben. Man muss aus seiner Situation das Beste machen. Ich bin immer aufrechten Ganges aufs Sozialamt gegangen und habe laut „Guten Tag“ gebrüllt, wenn ich rein ging. Stellen Sie sich vor: Damals saßen auf dem Gang auf dem Amt in Bremen West immer alle muffelig da. Jetzt kommt ein Idiot rein und macht da einen auf Zampano. Kommt mal her, wir müssen etwas besprechen. Ich hab hier Sozialhilfebroschüren. Die kostet ein bisschen was, aber wir können auch so darüber reden. Plötzlich redeten alle miteinander. Da kriegten die in den Büros immer schon mit: „Och nö, der Schröter ist wieder da, jetzt geht draußen wieder das Generve los“. Ich habe auch meine Anträge immer als Satire geschrieben. Heute würde man Comedy sagen. Bei einigen Treffen mit den Alleinerziehenden habe ich sogar Lesungen gemacht, aus der “Akte Schröter” (lacht.).
Sie sind kein besonders bequemer Zeitgenosse, oder? Sehen Sie sich als Rebell?
Ich habe viel gemacht, wo sich andere fragen, ob das sein muss. Ich fand das gut. Und meine Anträge zum Beispiel sind angekommen. Meine Sachbearbeiterin hat irgendwann gesagt: Mensch Jens schreib nochmal einen Antrag.
Und was haben Sie erreicht?
Ich war 1990 dabei, als die Nationale Armutskonferenz gegründet wurde. Ich habe die Dachorganisation der Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen gegründet, kurz nach der Wende. Ich sitze seit Mitte der Achtziger in den Arbeitskreisen Grundsicherung und Sozialhilfe der Nationalen Armutskonferenz, als Vertreter des paritätischen Gesamtverbands. Im paritätischen Landesverband Bremen bin ich seit 1985 im Landesvorstand und seit 1981 in dem von mir initiierten und mitbegründeten Arbeitskreis Sozialhilfe, der heute Arbeitskreis Armut heißt. Ich bin unter anderem auch als sozialerfahrener Dritter seit Mitte der 80er bei der Sozialdeputation der Bremischen Bürgerschaft dabei. Mein größter Erfolg war wohl damals bei der Debatte über die Regelsätze und Verwaltungsanweisungen. Ich habe es geschafft, die Sätze um eine D-Mark zu erhöhen. Umgerechnet war das insgesamt eine Million Mark. Ich habe also den Armen eine Million Mark verschafft.
Wann war das?
Das war, als Henning Scherf noch Sozialsenator war. Damals, als das noch finanziell möglich war, hatten wir beim VAMV auch noch vier Angestellte und sogar eine Familientherapeutin.
Und wie sieht das Vereinsleben beim VAMV mittlerweile aus?
Wir hoffen immer, dass die Menschen, die sich an uns wenden, wenn sie aus dem stressigen Alleinerziehen raus sind, selbst mithelfen. Jetzt arbeiten alle ehrenamtlich. Eine Kollegin bekommt eine Stunde bezahlt, arbeitet aber wie bei einer vollen Stelle. Und das, obwohl es die Alleinerziehenden heute deutlich schwerer haben als ich damals.
Wieso?
Es ist rechtlich komplexer geworden. Drei Probleme tauchen immer wieder in den Beratungen auf. Es ist sehr unwahrscheinlich, keine Fehler zu machen. Alleinerziehende brauchen zwei bis drei prekäre Jobs, wenn sie nicht in den Hilfebereich abrutschen wollen. Man muss die Details kennen. Die Situation mit den Kindern ist auch schwieriger geworden. Schauen Sie sich mal den Kitaausbau an. Auch haben wir überlastete Behörden und Gerichte. Bis etwa ein Klageverfahren in Sozialhilfeangelegenheiten bearbeitet ist, vergeht oft ein Jahr, mit Widerspruch und ein bisschen Pech manchmal sogar anderthalb Jahre. Das Interessante: Die Klage lohnt sich richtig. Jede Dritte wird für den Klagenden beschieden. Das ist ein strukturelles Problem. Die Regelsätze müssen erhöht werden.
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