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Schulschwimmen mit Hindernissen Felix schwimmt

Für Epileptiker gelten beim Unterricht im Bad besondere Auflagen. Die sind so hoch, dass ein Junge aus Nord erst keinen bekommen sollte. Jetzt hat sich der Landesbehindertenbeauftragte eingeschaltet.
28.08.2017, 19:43 Uhr
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Felix schwimmt
Von Christian Weth

Bremen-Nord. Felix Scheuerl ist im Schwimmerbecken, wie alle aus seiner Klasse. Seine Mutter musste dafür kämpfen. Für sie ist ihr Kind wie jedes andere. Und so behandelt sie es auch. Anders als die Bildungsbehörde. Für sie ist der Junge ein Junge mit Epilepsie, für den besondere Auflagen gelten. Die sind so hoch, dass es anfangs so aussah, als müsste der Drittklässler in der Schule bleiben, während die anderen im Hallenbad unterrichtet werden. Mittlerweile schwimmt er sicherer als mancher Mitschüler – und hat sich der Behindertenbeauftragte des Landes eingeschaltet.

Zwanzig Schwimmzüge, dann kurz verschnaufen. Wieder zwanzig Züge, erneut Pusteholen am Beckenrand. So geht das eine ganze Weile. Felix Scheuerl ist an diesem Morgen nicht so in Form wie vor einer Woche. Da hatte er die Bahn im Vegesacker Freizeitbad an einem Stück geschafft. Heute müht er sich. Sabine Nießen ist mal hinter ihm im Wasser, mal vor ihm, mal neben ihm. Sie sagt: „Weit mit den Armen ausholen!“ Dann: „Ruhiger werden!“ Später: „Schön gleichmäßig atmen!“ Nießen ist der Grund, warum der Junge mit der Klasse ins Bad darf. Sie ist Rettungsschwimmerin.

Und ein Glücksfall. Sowohl für den Jungen als auch für seine Mutter. Cornelia Scheuerl hatte alles versucht. Sie sprach mit der Schule, den Bremer Bädern, der Behörde. Doch niemand konnte ihr helfen, die Auflagen zu erfüllen, die für Kinder mit Epilepsie beim Schulschwimmen gelten: Sie brauchen einen Begleiter, der Rettungsschwimmer ist. Cornelia Scheuerl hat keine Ausbildung der DLRG. Und kannte niemanden, der sie hat. Bis Sabine Nießen bei ihr anrief. Die Frau hatte in der NORDDEUTSCHEN gelesen, dass alle aus der Klasse ins Bad fahren sollten – außer Felix.

Nießen findet, dass kein Schüler vom Schwimmunterricht ausgeschlossen werden darf. Die Mutter formuliert es ähnlich. Sie kann nicht verstehen, dass Politiker dauernd von Inklusion sprechen, sie aber gleichzeitig Auflagen machen, die es erschweren, Kinder auf gleiche Weise zu behandeln. Und sie sogar stigmatisieren: „Als Felix zum ersten Mal beim Schulschwimmen war, musste er einen aufblasbaren Gummikragen tragen.“ Cornelia Scheuerl hat die Behörde gefragt, was das soll. Und ob denn eine Rettungsschwimmer nicht reicht.

Jetzt reicht sie. Die Mutter ist froh darüber. Noch glücklicher wäre sie allerdings, wenn man es ihr etwas leichter gemacht hätte. „Die vergangenen Wochen“, sagt Scheuerl, „waren wirklich schlimm.“ Andauernd Gespräche, immer wieder neue Atteste vom Neurologen ihres Sohnes, die sie vorlegte, ständig die Sorge, dass der Junge ausgeschlossen wird: „Ich konnte deshalb nächtelang nicht schlafen.“ Dass es schwer werden würden, ihr Kind am Schulschwimmen teilnehmen zu lassen, hatte Cornelia Scheuerl geahnt. Aber nicht, dass die Sache so problematisch ist.

Sie ist sogar so problematisch, dass es Joachim Steinbrück jetzt langt. Der Behindertenbeauftragte des Landes findet die Auflagen unverhältnismäßig. Deshalb will er mit der Bildungsbehörde reden. Sie soll den Erlass fürs Schulschwimmen überarbeiten. Schwimmkragen plus DLRG-Begleiter hält er nicht bloß für übertrieben, sondern für diskriminierend. Und in manchen Fällen, meint er, braucht es weder den Gummi-Halsring noch einen Rettungsschwimmer. Dann nämlich, wenn einem Schüler vom Arzt attestiert wird, seit zwei Jahre durch Medikamente anfallsfrei zu sein.

Steinbrück hat sich diese Regel nicht einfach ausgedacht. Er orientiert sich am Verkehrsrecht: „Ein Erwachsener mit Epilepsie, der über eine so lange Zeit keinen Anfall bekommen hat, darf ja auch Auto fahren“, sagt der Behindertenbeauftragte. Deshalb fordert er, dass der Schwimmerlass der Bildungsbehörde analog zum Verkehrsrechts geändert wird. „Alles andere wäre unlogisch.“ Sicherheit, meint er, dürfe keineswegs so weit gehen, dass jemand etikettiert oder sogar ausgegrenzt wird. Einem Schüler das Schulschwimmen wegen einer Krankheit zu verweigern, ist ihm zufolge rechtlich unzulässig.

Felix Scheuerl ist seit anderthalb Jahren anfallsfrei. Er braucht mittlerweile weder einen Betreuer, der ihn zur Schule bringt, noch jemanden, der ihn von dort abholt. Nur im Wasser muss eine Begleitperson sein. Darauf bestehen die Bremer Bäder, weil die Behörde das so vorschreibt. Annette Kemp, Sprecherin von Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD), verweist auf andere Bundesländer, die ähnliche Richtlinien zum Schutz von Schülern haben. Und der gehe nun mal vor, auch wenn das eine Sonderbehandlung für das Kind oder den Jugendlichen bedeute.

Dieses Schuljahr ist nach ihren Worten das zweite, in dem die Behörde für alle Schüler mit Epilepsie einen Schwimmassistenten stellen kann. Und das erste, in dem sie eine personelle Reserve hat, falls ein Rettungsschwimmer mal ausfällt: „Zwei DLRG-Kräfte stehen auf Abruf bereit.“ Kemp hofft, dass sie ausreichen. Nach ihrer Rechnung brauchen momentan elf Schüler in Bremen einen Begleiter beim Schwimmunterricht. Bei zwei weiteren Kindern ist die Diagnose, ob sie Epilepsie haben, noch nicht abgeschlossen. „Wird sie tatsächlich gestellt, ist das Kontingent an Freiwilligen erschöpft.“

Im nächsten Schuljahr will die Behörde deshalb schneller reagieren als bisher. Sobald absehbar wird, dass die Zahl der Kinder, die eine Assistenz brauchen, die der Helfer übersteigen könnte, soll ein Aufruf in den Medien gestartet werden. Damit sich Mütter wie Cornelia Scheuerl keine Sorgen zu machen brauchen. Und Rettungsschwimmerinnen wie Sabine Nießen nicht ad hoc einspringen müssen. Sie gehört mittlerweile offiziell zum Betreuerteam der Behörde.

Dreimal hat sie jetzt Felix Scheuerl beim Schwimmen begleitet. Gleich beim zweiten Mal machte er etwas, das sich andere Kinder noch nicht trauten: Er legte die Prüfung zum Seepferdchen ab. Das Abzeichen hat er eine Woche später bekommen. Als der Drittklässler es in der Hand hält, schaut er so, als wäre das keine große Sache – jedenfalls nicht für einen Jungen wie ihn.

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