Überseestadt. „Guten Abend, mein Name ist Ismaeel. Ich bin Ihr Gastgeber“, sagt der höfliche junge Mann mit dem kupferroten Pferdeschwanz und leitet seine Gäste an die große quadratische Tafel. Die Gastgeber kennen ihre Gäste noch nicht. Aber man wird sich gleich kennenlernen. Und das ist mindestens genau so aufbauend und wohltuend wie das Essen.
Obwohl: Das wird gut, das kann man schon riechen. Wir sind in der Küche des Zollhauses im Kaffeequartier, das ein schönes junges Hostel war, und dann eine noch viel schönere junge Wohngemeinschaft geworden ist, findet Hausherrin Ulrike Dökel.
Einmal pro Woche bereitet eine wechselnde internationale Gruppe gemeinsam mit Hostel-Mitarbeiterin Rebecca Schowe die Gerichte ihrer Heimat in der Hotelküche zu. Und seit einiger Zeit sind an einem Abend im Monat Gäste dazu eingeladen. An jedem ersten Donnerstag heißt es seitdem „Das Zollhaus kocht!“, und um 19 Uhr wird im kleinen Kreis am großen Tisch gemeinsam gegessen.
Diesmal steht Azad am Herd, in einer großen Kasserolle simmert ein kurdisches Gemüsegericht vor sich hin, das er „Gaaganli“ nennt. Darin sind Kartoffeln, Zucchini, Auberginen und dieses andere – „Blumenkohl heißt das“, springt Ismaeel ein. In der Pfanne brutzeln Fleischspieße, in einer anderen brät dünnes Fladenbrot knusprig braun: Es wird als Vorspeise mit einer Joghurtsauce serviert, erklärt Vidl. Ali schneidet derweil Gurken, Tomaten und Paprika zu feinen Würfeln. Die Küchencrew, das sind diesmal vier Jugendliche aus Syrien und dem Irak im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ im Behördendeutsch – Ulrike Dökel sagt: „unsere Jungs“.
Vor zwei Jahren hatte die Sozialbehörde im Zollhaus angefragt, ob man sich dort vorstellen könne, jugendliche Flüchtlinge aufzunehmen. Man konnte. Im Dezember 2014 zogen dort die ersten Zwölf ein, anfangs neben dem laufenden Betrieb im 110-Betten-Haus. Das ungewöhnliche Miteinander lief sehr gut, erzählt Ulrike Dökel. „Wir haben die Jungs sofort ins Herz geschlossen.“ Die „tollen“ Hotelgäste, viele Geschäftsleute darunter, hatten keinerlei Berührungsängste. Doch der Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten stieg. Die Entscheidung, das Haus komplett zur Betreuungseinrichtung umzuwandeln, „die haben wir hier alle gemeinsam getroffen“, sagt die Hotelchefin. Seit fast einem Jahr wohnen nun 60 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren im Zollhaus, zusammen mit den Pädagogen der Akademie Lothar Kannenberg, einem anerkannten Träger der Jugendhilfe.
Ulrike Dökel und ihre Mitarbeiter haben sich aber nie aus dem Haus verabschiedet. Dass das Bistro weiter in Betrieb bleibt, war allen wichtig: Das Zollhaus sollte nach außen offen und zugänglich sein. Und die Mitarbeiter haben dankbare neue Aufgaben gefunden. Hausmanager Jan Spindler ist zusätzlich zum Fußballmanager aufgestiegen. Er hat das Zollhaus-Team gegründet, das regelmäßig trainiert und Ambitionen in der Bremer „Wilden Liga“ hat. Der Co-Trainer heißt Thomas Dökel und hat sich mit einem der Spieler so gut angefreundet, dass er nun auch die Mentorenschaft für den Jungen aus Gambia übernommen hat, erzählt seine Ehefrau. Hotelfachfrau Rebecca hat, wie gesagt, das Kochprojekt ins Leben gerufen, eine weitere Mitarbeiterin bietet einen wöchentlichen Kunst-Abend an.
Auch Musik wird gemacht: Dafür holte sich das Zollhaus niemand Geringeren als den Musiker und Schauspieler Pago Balke ins Haus. Mit dem selbst komponierten mehrsprachigen Song „Zollhaus-Boys“ trat der Hausfreund mit der Hausband schon beim Diversity-Preis im Weser-Stadion und bei der Eröffnung des Porthotels öffentlich auf. Im Dezember des vergangenen Jahres feierten 80 Zollhaus-Bewohner und Zollhaus-Mitarbeiter zusammen Weihnachten, im März wurde das Osterfest begangen – nach einem gründlichen gemeinsamen Frühjahrsputz und selbstverständlich mit selbst gefärbten Eiern.
Und als das Zollhaus diesmal wieder kochte, konnten die Gäste nicht nur richtig gut essen, sondern auch erfahren, dass der 16-jährige Azad mit den Grübchen und den verschmitzten Augen Eltern und drei kleine Brüder im schwer getroffenen Kobane zurückgelassen hat. Dass der 18-jährige Ali in die Europaschule geht und Informatiker werden möchte, dass Ismaeel „vor einem Jahr und sieben Tagen“ mit seinem Cousin aus Aleppo geflohen ist und das berufliche Gymnasium der Schule an der Alwin-Lonke-Straße besucht.
Die Gäste konnten darüber staunen, wie harmonisch 60 ausgewachsene Teenager unter einem guten Dach wohnen können. „Hier gibt es keinen Streit“, sagt Azad. „Polizei haben wir hier noch nie gesehen.“ Sie konnten die Jugendlichen fragen, wie es ihnen in Bremen ergeht und ihren Familien zu Hause, sich beim Smalltalk über Interessen, Hobbys, Wünsche und Pläne austauschen, sich sogar gegenseitig Witze erzählen und miteinander viel lachen. Und sie waren dann vielleicht so berührt wie die Bremerin, die sich nach dem letzten Abendessen spontan entschloss, Mentorin zu werden.
Integration, sagt Ulrike Dökel, ist ein viel strapaziertes Wort, aber wenn der Kontakt ganz alltäglich und selbstverständlich wird, funktioniert sie ganz von allein. Und dann können alle nur profitieren. „Wir bekommen so viel zurück, lernen so viel“, erklärt die Unternehmerin und Mutter zweier Töchter. Sich karitativ einzubringen, das hatte sie eigentlich schon so lange vor, erzählt sie. „Aber ich war immer selbstständig, habe immer viel gearbeitet – es fehlte die Zeit.“ Als sich dann im Zollhaus die Gelegenheit ergab, sei das „wie ein Geschenk“ gewesen, sagt Ulrike Dökel. „Aber was ich damals nicht wusste: Dass es so ein großes Geschenk ist.“