Seinen Zahnarzttermin hatte Robert Schlemmer glücklich hinter sich gebracht, es konnte wieder heimwärts in die Neustadt gehen. Doch gerade als er die Praxis an der Flughafenallee verlassen hatte, hielt der Pensionär plötzlich inne. Auf dem Gehweg lag eine kleine schwarze Tasche. "So ungefähr doppelte Handygröße, eine Art Herrenhandtasche", sagt der 73-Jährige. Einfach liegen lassen wollte er die Tasche nicht. "Ich dachte, es könnten ja persönliche Papiere drin sein."
Ein Irrtum, wie er nach einer kurzen Überprüfung des Inhalts feststellte. Vielmehr konnte sich Schlemmer vom Wahrheitsgehalt eines alten Sprichworts überzeugen, wonach das Geld auf der Straße liegt. In diesem Fall handelte es sich um 11.400 Euro und 2000 Türkische Lira – umgerechnet rund 55 Euro – , wie die Innenbehörde später mitteilte. Was für einen gewaltigen Fund er da gemacht hatte, wurde ihm allerdings erst so richtig klar, als die Geldscheine vor seinen Augen auf der Wache zwei Mal gezählt wurden. "Dort habe ich den ganzen Inhalt erst gesehen", sagt Schlemmer.
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Kam ihm denn gar nicht in den Sinn, das schöne Geld für sich zu behalten? "Nein", antwortet Schlemmer, "keine Sekunde." Natürlich wurde sein Fund auch unter diesem Gesichtspunkt im Freundes- und Bekanntenkreis eifrig diskutiert. "Aber da gab es keinen, der gesagt hat: 'Du bist bescheuert, das Geld hätte ich nicht abgegeben.'" Anders hätte er sich allenfalls bei Kleinbeträgen verhalten, sagt Schlemmer. Ein paar Cent-Münzen trage man nicht zur Polizei. "Auch fünf Euro hätte ich vielleicht für mich behalten."
Sein spontanes und ehrliches Verhalten begründet Schlemmer mit einer alten Devise seiner Eltern: "Wenn du was regeln musst, dann mach das." Soll heißen: nicht lange warten, sondern unverzüglich die Initiative ergreifen. Diesen Ratschlag hat Schlemmer auch am Dienstag vergangener Woche beherzigt. Zuerst sei er wieder zurück in die Zahnarzt-Praxis gegangen und habe dort Bescheid gegeben. "Hätte ja sein können, dass ein Patient die Tasche verloren hatte", sagt er.
Danach habe er das nächstgelegene Polizeirevier am Flughafen aufgesucht. Für den munteren Pensionär kein ganz ungewohntes Umfeld. Denn als ehemaliger Polizist begab er sich quasi zu den Kollegen von einst. Fast 40 Jahre lang war Schlemmer bei der Kriminalpolizei. Daher weht der Wind, möchte man meinen. Hat ihn also das gewohnte Pflichtgefühl als Polizist dazu bewogen, den Fund der Geldtasche brav zu melden? Davon will Schlemmer nichts wissen. "Das war nie eine Frage, das hätte ich auch so gemacht", sagt er.
Womöglich kam ihm beim Geldfund seine besondere Form der Mobilität zugute. Als passionierter Fußgänger legt Schlemmer lange Wege zurück. "Wer weiß, vielleicht habe ich nur deshalb die Geldtasche gefunden. Mit dem Rad wäre ich sicher ganz anders unterwegs gewesen." Zu seinem Schaden ist der Geldfund jedenfalls nicht, der gesetzlich vorgeschriebene Finderlohn lässt sich nach festgelegten Vorgaben errechnen. Bei einer Summe dieser Höhe beträgt der Finderlohn exakt 353,50 Euro. Was er damit anfangen will, weiß Schlemmer noch nicht genau. "Vielleicht freuen sich die Enkel", sagt er.
Wie die Geldtasche verloren ging
Fragt sich nur, wie der Eigentümer seine Tasche überhaupt verlieren konnte. Nur einen Tag nach dem öffentlichen Suchaufruf meldete er sich bei der Polizei und konnte mit Detailangaben zweifelsfrei belegen, der rechtmäßige Eigentümer zu sein. Die Geldtasche sei ihm in der Nähe seiner Arbeitsstätte aus der Jacke gefallen, sagt Ressortsprecherin Karen Stroink. Genauer: durch ein Loch gerutscht. "Er hat die Jacke mitgebracht – es war deutlich zu erkennen, dass die Innentasche einen großen Riss hatte." Das Geld stammt laut Behörde aus einer privaten Spendensammlung für bedürftige Familien.
Bargeldfunde sind nichts Ungewöhnliches. Fast täglich hat das Fundamt damit zu tun. "Meistens sind es Portemonnaies mit Geld", sagt Stroink. Die Bandbreite der Beträge liege zwischen einem Cent und 1000 Euro. Durchschnittlich würden zwei große Geldfunde pro Jahr abgegeben, also Beträge von 5000 Euro und mehr. Der höchste Bargeldfund in den vergangenen zwei Jahren lag bei 50.000 Euro und damit deutlich über der aktuellen Fundsumme. "Die Mitarbeiterin eines Supermarkts entdeckte das Geld in einem Rucksack und übergab es der Polizei." Die Eigentümerin des Geldes habe sich sofort beim Fundamt gemeldet und den Rucksack zwei Tage später abgeholt.
Seine Arbeit bei der Polizei brachte Schlemmer mit der Schattenseite der menschlichen Existenz in Berührung. "Da habe ich so viel Elend gesehen", sagt er kopfschüttelnd. Mit 60 Jahren wechselte Schlemmer ins Pensionärsdasein. "Ich hatte Glück, ich konnte noch vor der Reform gehen." Erst nach seinem Abschied sei das Eintrittsalter in den Ruhestand Stufe um Stufe angehoben worden. Seither genießt Schlemmer seinen Lebensabend. "Kann ich nur empfehlen", sagt er.
Nach der Aufregung um seinen Bargeldfund kann sich Schlemmer wieder in aller Ruhe seiner großen Leidenschaft zuwenden, dem Laientheater. "Daran hängt mein ganzes Herz", sagt er. Im März stehe eine "Welturaufführung" an, erklärt er mit selbstironischem Unterton. Ein Stück aus eigener Feder werde gezeigt. Es spielt im Zweiten Weltkrieg im besetzten Paris, eine Komödie mit ernstem Hintergrund. Der Titel: "Die Bücher des Monsieur Victor."