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Um Rente wegen Erwerbsminderung gibt es häufig Streit / Jacobs University hat Studie gestartet Gesund genug für „irgendeinen“ Job?

Erwerbsminderungsrente: Wer diese Leistung in Anspruch nimmt, hat meist keine andere Wahl. Er ist gesundheitlich so stark beeinträchtigt, dass er nicht mehr arbeiten kann. Ob das im Einzelfall tatsächlich so ist, muss der Versicherungsträger beurteilen. Dabei kann es auch zu Konflikten kommen, wie der Fall des Vegesackers Wolfgang Neyen zeigt.
15.08.2014, 00:00 Uhr
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Gesund genug für „irgendeinen“ Job?
Von Jürgen Theiner

Erwerbsminderungsrente: Wer diese Leistung in Anspruch nimmt, hat meist keine andere Wahl. Er ist gesundheitlich so stark beeinträchtigt, dass er nicht mehr arbeiten kann. Ob das im Einzelfall tatsächlich so ist, muss der Versicherungsträger beurteilen. Dabei kann es auch zu Konflikten kommen, wie der Fall des Vegesackers Wolfgang Neyen zeigt.

Mit 50 Jahren schon am Ende des Arbeitslebens? Wolfgang Neyen begeht in diesen Tagen seinen runden Geburtstag, aber zum Feiern ist ihm nicht zumute. Der Vegesacker hat keinen Job, und er wüsste auch nicht, wer ihn noch einstellen sollte, denn er ist gesundheitlich schwer angeschlagen. Neyen hat chronische Schmerzen in den Lendenwirbeln, einen Diabetes mit entsprechendem Fußsyndrom, der linke Hacken musste entfernt werden. Vor fünf Jahren erlitt er einen Schlaganfall. Zurück blieben ein schwankender Gang und Wortfindungsschwierigkeiten.

Entsprechend eingeschränkt waren zuletzt Neyens Perspektiven am Arbeitsmarkt. Im vergangenen Jahr war er noch zeitweilig als Pförtner im Kraftwerk Farge auf 400-Euro-Basis beschäftigt. „Seither geht für mich beruflich nichts mehr“, sagt Neyen, und die Resignation in seiner Stimme ist dabei nicht zu überhören.

Dass der gelernte Maler finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, lässt sich denken. Seine Frau leidet an Epilepsie und musste nach einer Unterschenkel-Amputation bereits vor vielen Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden. Sie erhält eine Schwerbehindertenrente von knapp 1300 Euro. Wolfgang Neyens Arbeitslosenbezüge werden vom Jobcenter mit diesem Betrag verrechnet. Ihm bleiben deshalb monatlich nur 30,84 Euro.

Es war nicht zuletzt dieser deprimierende Umstand, der Neyen Anfang des Jahres bewog, seine gesundheitlichen Einschränkungen bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) in Oldenburg geltend zu machen und eine Rente wegen Erwerbsminderung zu beantragen. Für Mitte Mai wurde er zu einer eingehenden Untersuchung bestellt.

Die Diagnose der Versicherungsärzte: belastungsabhängige Schmerzen, erhöhte Verletzungsgefahr bei diabetischem Fußsyndrom, insulinpflichtiger Diabetes mellitus. Schon zwei Wochen später hatte Wolfgang Neyen seinen Bescheid im Briefkasten. Darin wurde ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung allerdings klar verneint. Der Antragsteller, so heißt es in dem Schreiben, könne noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten. Kernsatz: „Wir dürfen dabei nicht berücksichtigen, ob Sie Ihre letzte Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können. Es kommt nur darauf an, ob Sie irgendeine Tätigkeit ausüben können, die es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt.“

Welche denn? Das fragt sich Wolfgang Neyen. In den vergangenen Monaten habe er rund 40 Bewerbungen verschickt. „Ein Drittel der Adressaten hat nicht mal geantwortet.“ Er ist entschlossen, den ablehnenden Bescheid aus Oldenburg nicht einfach hinzunehmen, und hat schon mal Widerspruch eingelegt. Glaubt man DRV-Sprecher Thomas Rathmann, dann sind seine Erfolgsaussichten eher gering. Er kennt die Statistiken. Im vergangenen Jahr wurden nach seinen Angaben in Oldenburg rund 4600 Anträge auf Erwerbsminderungsrente beschieden, rund die Hälfte abschlägig. Nur zwölf Prozent der eingelegten Widersprüche waren erfolgreich. Diejenigen Antragsteller, die letztlich vors Sozialgericht zogen, konnten sich in 17 Prozent der Fälle durchsetzen.

Joachim Wittrien aus Aumund-Hammersbeck ist die Materie vertraut. Das Bundesvorstandsmitglied des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) war einige Jahre ehrenamtlicher Richter am Sozialgericht. Sein Eindruck: „Die Versicherungsträger versuchen natürlich erst mal, möglichst viel abzubiegen.“ Wer eine Erwerbsminderungsrente beantragen wolle, tue deshalb gut daran, zuvor fachlichen Rat einzuholen. Der niedersächsische SoVD-Landessprecher Matthias Büschking nimmt die Rentenversicherung gegen Pauschalurteile in Schutz. „Klar gibt es Einzelfälle, bei denen man sich fragt: Was hat die geritten, so zu entscheiden?“, gibt Büschking seine Erfahrungen wieder. Letztlich gelte jedoch: „Es hängt für den Antragsteller immer davon ab, welchem Sachbearbeiter er gegenübersitzt.“ Eine generelle Tendenz zur Verweigerung von Leistungen könne er nicht bestätigen.

Noch relativ neu ist die Praxis der Rentenversicherung, Erwerbsminderungsrenten zunächst grundsätzlich befristet zu gewähren, und zwar auf drei Jahre. Erst nach zwei Verlängerungen kann die Zahlung nach zehn Jahren in eine Dauerrente übergehen. Angestrebt wird also grundsätzlich eine Rückkehr ins Erwerbsleben. Bei körperlich eingeschränkten Menschen kann dies der medizinische Fortschritt bewirken, bei psychischen Beschwerden eine Verbesserung der mentalen Verfassung.

Von der Jacobs University in Grohn lässt die DRV seit Kurzem untersuchen, unter welchen persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen sich Erwerbsminderungsrentner eine Rückkehr ins Erwerbsleben vorstellen können. Ein Forscherteam um die Professorin Sonia Lippke und die Gesundheitspsychologin Elisabeth Zschucke führt dazu über einen längeren Zeitraum Hunderte von Gesprächen mit Betroffenen. Aus den ersten Interviews lasse sich bereits ein gewisser Trend ablesen, ist von Elisabeth Zschucke zu erfahren: „Viele haben das Gefühl, auf dem Arbeitsmarkt chancenlos zu sein.“

Die Erwerbsminderungsrente werde zumeist als „Endstation“ angesehen – aus Sicht der Wissenschaftlerin ein Indiz für mangelnde Flexibilität der Wirtschaft. Dort müssten vermehrte Anstrengungen unternommen werden, gesundheitlich gehandicapten Menschen eine Beschäftigung anzubieten. Vielleicht könne der sich verschärfende Fachkräftemangel einen entsprechenden Sinneswandel in den Unternehmen bewirken, so Zschucke.

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