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Umzüge, Neubauten, Projekte: Die Dynamik in der Überseestadt ist ungebrochen Hafen mit Sogkraft

Bremen. Zwei Männer, die sich mächtig mühen, es aber trotzdem nicht hinkriegen, weshalb ein dritter hinzu kommt, und der fragt erst einmal, denn das ist nicht klar: „Raus oder rein?“ Er fragt, weil die Leute von der Anbiethalle, dieser Futtern-wie-bei-Muttern-Station in der Überseestadt, ihre Buletten und den Fisch schon bald woanders servieren und es also sein könnte und sogar wahrscheinlich ist, dass an diesem Tag der Auszug beginnt und gleich mal ein besonders schweres und sperriges Teil angepackt wird. Tatsächlich aber, so erklärt es der Wirt, muss der monströse Gefrierschrank ins Haus hinein und nicht hinaus, ab in die Küche, weil das alte Gerät ausgefallen ist.
18.04.2016, 00:00 Uhr
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Hafen mit Sogkraft
Von Jürgen Hinrichs

Zwei Männer, die sich mächtig mühen, es aber trotzdem nicht hinkriegen, weshalb ein dritter hinzu kommt, und der fragt erst einmal, denn das ist nicht klar: „Raus oder rein?“ Er fragt, weil die Leute von der Anbiethalle, dieser Futtern-wie-bei-Muttern-Station in der Überseestadt, ihre Buletten und den Fisch schon bald woanders servieren und es also sein könnte und sogar wahrscheinlich ist, dass an diesem Tag der Auszug beginnt und gleich mal ein besonders schweres und sperriges Teil angepackt wird. Tatsächlich aber, so erklärt es der Wirt, muss der monströse Gefrierschrank ins Haus hinein und nicht hinaus, ab in die Küche, weil das alte Gerät ausgefallen ist.

„Umziehen werden wir erst in ein paar Monaten“, sagt Hans-Jürgen Schreiber. Seine Gaststätte auf der Ecke Hansator/Am Kaffee-Quartier wechselt quer rüber auf die andere Straßenseite und nimmt in der alten Bahnmeisterei Platz. Das Gebäude wird gerade hergerichtet, an einer Stelle, an der noch einiges mehr passiert und zum Beispiel eine ausladende Halle für den Verkauf von Fahrrädern gebaut wird. Wo man hinschaut im alten Hafen, der langsam zu einem Stadtteil heranwächst – überall Bewegung.

Rettung für ein Relikt

Schreiber flucht. Ein Stehtisch kippt, als der Kühler durch den Eingang bugsiert wird. Was drauf stand, liegt zerdeppert auf dem Boden, irgendetwas aus Ton, egal. Für den Wirt aber offenbar nicht, er hängt an den alten Sachen: „Jammerschade!“ Den Helfern ist er trotzdem dankbar, „das nächste Essen geht auf mich!“ Einmal noch in der alten Anbiethalle, klar, geht klar, demnächst mal. Das Lokal gehört zum Hafen und sollte nach dem Willen der Politik unbedingt erhalten bleiben, wenn auch an einem anderen Ort, weil das Areal, auf dem es heute steht, neu bebaut wird: Ein Hotel, Läden, Dienstleister – 23 Millionen Euro, die ein Investor aus Hannover ausgeben will. Das Hafen-Casino ist auch so ein Relikt: Früher mal in Gefahr, weil es am Holz- und Fabrikenhafen richtig fein werden sollte, heute nicht mehr wegzudenken. Oder der Schuppen 3, ein 400 Meter langer Riegel am Europahafen. Er wird allerdings nur zu einem kleinen Teil gerettet, wenn auf der Fläche in den nächsten Jahren nach und nach 450 Wohnungen gebaut werden. Wieder ist gewaltig viel Geld im Spiel: 100 Millionen Euro.

Die Überseestadt beginnt, wo der Weser-Tower steht. Gegenüber haben sich an der Eduard-Schopf-Allee zwei Gebäude an die Straße geschmiegt – Büros und Läden auf einer Fläche von rund 18 000 Quadratmetern; der Weser-Tower hat genau so viel. Im Mai werden in den neuen Häusern die ersten Mieter einziehen. Das Projekt der Firma Siedentopf, die den Immobilienbesitz der Familie von Eduard Schopf (Eduscho) entwickelt und verwaltet, heißt schlicht „Eins“, was die Hausnummer sein kann – oder der Anspruch.

Freie Flächen

Ein Grundstück im sogenannten Weser-Quartier ist noch frei. Es könnte bebaut werden, die Pläne sehen das vor, doch konkret ist noch nichts, sagt Siedentopf. Bliebe die Fläche frei, wäre es nicht so eng und dicht an der Stelle, mehr Luft und Raum für die umliegenden Gebäude.

Ein kurzes Stück weiter die Eduard-Schopf-Allee hinunter weist ein großes Schild auf ein Projekt hin, mit dem eigentlich bereits im Sommer vergangenen Jahres begonnen werden sollte. Nach dem Weser-Tower und dem Landmark-Tower am Eingang zum Europahafen wäre es das dritte Hochhaus in der Überseestadt. Offenbar gibt es aber Probleme, genügend Mieter zu finden. Der Investor, die Bremer Firma Justus Grosse, ist trotzdem zuversichtlich. „Spätestens in einem Dreivierteljahr dürfte es losgehen“, kündigt Grosse-Gesellschafter Joachim Linnemann an. Der „Übersee-Tower“, wie das Haus von den Planern genannt wird, soll 13 Stockwerke bekommen und die Spitze eines Grundstücks besetzen, auf dem Justus Grosse bereits das Weinkontor entwickelt hat, das jetzt Büros beherbergt.

Wieder nur einen Steinwurf entfernt, steht auf der anderen Straßenseite ein Bunker, der für kurze Zeit als mögliches Goldlager Furore gemacht hat. An der Geschichte war nichts dran, wie sich herausstellte, aber sie war Futter für die Fantasie: Fort Knox im Hafen! Eine andere Planung sah später vor, den Bunker mit einem fünfgeschossigen Glasaufbau zu krönen, um so Büroflächen zu schaffen. Doch auch diese Zeichnungen, entstanden im Bremer Büro GMD Architekten, sind schon wieder Makulatur. Was mit dem Trumm tatsächlich passiert, weiß derzeit keiner.

Der Weg zum Europahafen führt an neuen Kontorhäusern vorbei, in einem sind Spezialabteilungen der Finanzämter von Bremen und Bremerhaven untergebracht. Es gibt Büros von Werbeagenturen, Architekten, Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Es gibt ein Restaurant, Elisa, das mit mediterraner Küche wirbt. Woanders, aber auch in der Nähe, wird vietnamesisch gegessen: Im Pho Viet, das mehr oder weniger eine Bude ist, sehr originell.

Davor, dahinter und dazwischen immer wieder Brachen. Auf einer dieser Flächen sollte mal ein Gesundheitszentrum entstehen, das Projekt ist geplatzt. Auf einer anderen wollte am Kopfende des Europahafens der Bremer Multiunternehmer Kurt Zech seine Firmenzentrale errichten. Gehört hat man schon lange nichts mehr davon.

Anders bei Schuppen 3, da geht es jetzt offenbar voran. Und wenn die paar Hundert Wohnungen erst einmal belegt sind und sich mit jenen am Europahafen, an der Marcuskaje und an der Hafenkante addieren, kommen so viele Einwohner zusammen, dass ein Backshop oder der Discounter Aldi nicht mehr reichen, sie aus der Nähe zu versorgen. Allein im Projekt Hafenkante, wo zum Beispiel die Brebau gerade Häuser hochzieht, soll Wohnraum für rund 3300 Menschen entstehen.

Der Senat hat für die Überseestadt deshalb ein Einzelhandelskonzept anfertigen lassen. Das Ergebnis, nicht überraschend: Es muss ein großer Vollsortimenter her, daneben am besten noch ein paar kleinere Läden. Der Ort dafür ist schon ausgeguckt, ein rund 8000 Quadratmeter großes Areal an der Konsul-Smidt-Straße, das heute noch zum Großmarkt gehört.

Großmarkt-Chef Uwe Kluge bestätigt diese Überlegungen. Wenn es gut läuft, meint er, könnte man eine Art Lieferkette organisieren. „Wir haben ja alles da, was frisch ist: Obst, Gemüse, Blumen, Bioware.“ Bislang sind diese Produkte für die Kunden unerreichbar, jedenfalls an diesem Ort. Die gut 16 Hektar große Großmarktfläche ist eingezäunt, ein Fort Knox anderer Art, in dem rund 100 Firmen abseits der Öffentlichkeit ihren Geschäften nachgehen. Die Vorstellung, daraus offene Markthallen zu machen, scheitert am Baurecht: Einzelhandel verboten!

Der Supermarkt und die anderen Geschäfte sollen deshalb nur angedockt werden und nicht integriert. Doch wer weiß? Baurecht lässt sich ändern. Zumal der Großmarkt mittlerweile als Barriere empfunden wird. Als er vor 14 Jahren vom Flughafen in die Überseestadt verlegt wurde, galt das noch als weise Tat, auch wenn die Unternehmen, die mitziehen mussten, vernehmlich maulten. Damals war man im Hafen froh über jede neue Ansiedlung. Heute sind es 16 eingezäunte Hektar, die an eine Hochschule grenzen, an einen Park und mehr und mehr auch an Wohnbebauung.

Im Einzelhandelskonzept wird dem Großmarkt zugetraut, zu einem Standort zu werden, der Identität stiftet – als offener, erlebbarer Markt. Ein Gedanke, der einen in andere Gefilde versetzt. Buntes Treiben überall, Händler, die ihre Waren feilbieten, dazwischen ein paar Cafés. Man ist im Süden, vielleicht ein Strand in der Nähe, und ja, den wird es auch in der Überseestadt geben. Drei Jahre her, dass die Idee das erste Mal formuliert wurde. Keine Böschung aus Steinen mehr, wie man es vom Hafen kennt, sondern ein Strand. Gebaut werden soll er am Rand des Wendebeckens, dort, wo die Überseestadt zu Ende ist. Das Projekt heißt „Weiche Kante“ und wird tatsächlich wahr. Der Senat hat am Dienstag zugestimmt, die Mittel, hauptsächlich aus Töpfen des Bundes und Europas, können fließen. Der Strand wird rund sieben Millionen Euro kosten. Ein Strand im Hafen – Sinnbild für den Wandel. Leitartikel Seite 1

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