Die "Via Baltica" zählt zu den Jakobswegen in Deutschland. Sie beginnt auf der Insel Usedom an der Grenze von Polen und Deutschland und führt über Lübeck, Hamburg und Bremen bis nach Osnabrück. Unsere Autorin Alice Echtermann ist ein Stück auf der Via Baltica gepilgert.
Der erste gelbe Pfeil befindet sich am Ausgang des kleinen Bahnhofs in Ottersberg. Vom Bahnsteig sind es nur wenige Meter bis zu einem Fußgängerweg, der direkt ins Grüne führt. Hier beginnt sie also, die erste Pilgerreise meines Lebens. Die Wintersonne hat es noch nicht durch die Wolkendecke an diesen kalten Morgen geschafft. Ich stelle mir vor, dass am Ende dieses Weges, würde ich ihn nur lange genug gehen, ein wärmerer Ort liegt.
Dort scheint die Sonne fast das ganze Jahr – im Westen Spaniens, in Santiago de Compostela. Alle Jakobswege führen zu der Stadt, in der laut der Legende die Gebeine des Apostels Jakobus des Älteren begraben sind. So auch die „Via Baltica“, die von Usedom quer durch Deutschland führt und auf der ich an diesem Tag einen Abschnitt gehen werde.
Das Jakobspilgern wird seit Jahren immer beliebter. In Deutschland boomt die Wanderlust, seit der Entertainer Hape Kerkeling seinen Reisebericht „Ich bin dann mal weg“ veröffentlicht hat. Auf einschlägigen Webseiten ist die Rede vom „Kerkeling-Effekt“: einem sprunghaften Anstieg deutscher Pilger 2007, dem Jahr nach der Buchveröffentlichung. Ob die Zahlen stimmen, lässt sich schwer sagen; die meisten Internetseiten werden von Privatpersonen geführt, berufen sich aber auf das Pilgerbüro in Santiago de Compostela. Unbestreitbar ist, dass Kerkeling den Jakobsweg viel bekannter gemacht hat. Und auch ich bin neugierig: Was hat das Pilgern an sich, das die Leute anzieht? Vielleicht werde ich es heute erfahren.

Die Jakobsmuschel und gelbe Pfeile weisen den Weg.
Von Ottersberg nach Lilienthal
Mein Ziel heißt zwar nicht Santiago, sondern Lilienthal – aber wer noch nie gepilgert ist, sollte klein anfangen. Am Bremer Hauptbahnhof habe ich meine Begleiter getroffen: Martin Gottschewski aus Bremen, Christine Köffer aus Niederbayern, Nicole Schwimmer aus Berlin und Francesc Alfambra aus Barcelona in Spanien. Sie alle sind erfahrene Pilger. Martin Gottschewski hat die Gefährten auf seiner Wanderung auf der Via de la Plata in Spanien kennengelernt und nach Bremen eingeladen. Diese Menschen sind bei glühender Hitze und strömendem Regen wochenlang durch Spanien gelaufen – heute wird es für sie vermutlich ein gemütlicher Spaziergang.
Wir fahren am frühen Morgen mit dem Zug los. Um bei Kerkeling zu bleiben: Ich bin dann mal weg. Zumindest für einen Tag. Von Ottersberg geht es zu Fuß weiter, mit Rucksack, Mütze und Handschuhen. Sobald wir auf freies Feld kommen, pfeift uns der Wind um die Ohren. „Auf dem Jakobsweg wird geduzt“, war das Erste, was Martin Gottschewski heute Morgen zu mir gesagt hat.
Als ehrenamtlicher Wegwart des Vereins „Freundeskreis der Jakobswege in Norddeutschland“ hat Martin die meisten Markierungen auf diesem Abschnitt der Via Baltica selbst angebracht – gelbe Pfeile oder stilisierte Jakobsmuscheln, als Aufkleber oder mit Baumfarbe gesprüht. Sein Ziel sind lückenlose, unmissverständliche Wegweiser. Obwohl er seinen Job gut gemacht hat, übersehen wir sie manchmal. Das liegt daran, dass wir zu viel quatschen, sagt Martin.

Christine (Tine) Köffer macht Bekanntschaft mit den Ponys am Weg.
Auf dem Jakobsweg hilft man sich gegenseitig
Einfach nur zu gehen, ohne sich Sorgen um die Orientierung zu machen, hat viele Vorteile. „Man nimmt die Dinge am Weg richtig wahr“, sagt Christine, die wir alle Tine nennen. Die 51-Jährige ist vor drei Jahren zum ersten Mal den Jakobsweg in Spanien gelaufen, auf dem Camino Frances, der beliebtesten Route. Nach nur fünf Tagen verlor sie ihren Reisebegleiter und fand ihn erst am Ziel in Santiago de Compostela wieder.
Allein war sie dennoch nie. Auf dem Jakobsweg, das höre ich an diesem Tag immer wieder, hilft man sich gegenseitig und findet Freunde. „Am Anfang ist man noch nicht so offen. Alle sind eher in sich gekehrt, wollen sich selbst finden“, sagt Tine. Aber das ändere sich dann nach einigen Tagen oder Wochen.
Seit dem ersten Mal war Tine jedes Jahr wieder unterwegs – in diesem Jahr ganze viereinhalb Monate. Geplant war sogar ein halbes Jahr. „Ich bin mit meinem Hund gelaufen und habe deshalb vor allem im Zelt geschlafen“, erzählt sie. Weil es zu viel regnete, brach sie die Reise vorzeitig ab. „Ich habe da gemerkt, dass es nichts für mich wäre, immer unterwegs zu sein. Ich brauche einen Ort, wo ich bleiben kann.“ Tine verkauft Filz auf Mittelalter- oder Weihnachtsmärkten. Schafwolle sei die beste Kleidung für Pilger, sagt sie: Warm, atmungsaktiv, und sie fange nicht so schnell an zu stinken. Tine strahlt eine große Ruhe und Gelassenheit aus. Das hat sie mit den meisten der Gruppe gemeinsam.

In der privaten Pilgerherberge von Vincent May und Johanne Oldenburger in Lilienthal bekommen müde Wanderer ein warmes Abendessen.
Vielen geht es beim Pilgern nicht um Religion
Francesc spricht nur Spanisch und ein bisschen Englisch. Der 60-Jährige ist den Jakobsweg in Spanien bereits viermal gewandert. „Allein gehen ist sehr wichtig“, sagt er. „Sonst lernt man niemanden kennen. Ich kenne Australier, Kanadier, Deutsche, Brasilianer – Menschen von allen Kontinenten.“ Es geht ihm beim Pilgern um das Naturerlebnis und die Menschen. Jedenfalls nicht um Religion. Martin, der neben uns geht, sieht das ähnlich: „Ich bin auch nicht religiös, aber ich finde Religion interessant.“
Francesc ist studierter Biologe und erforscht Höhlen, was er mir mit einem Foto auf seinem Handy beweist. „In Bremen erforsche ich aber lieber die Architektur, die Kultur und die Gastronomie“, sagt er, lacht und wendet sich an Martin: „Hey, wo ist denn jetzt die nächste Bar?“ In dieser Gegend sind Kneipen rar. Doch gegen Mittag erreichen wir Fischerhude mit seinen gepflegten Bauernhäusern. In einem Café neben einem Bio-Hofladen essen wir eine Kleinigkeit. Francesc trinkt ein Bier und verteilt Brote mit spanischem Schinken.
Nach der kleinen Pause bricht endlich die Sonne durch die Wolken. Wir gehen ein Stück des Weges schweigend. Die Gruppe zerstreut sich dabei automatisch, jeder läuft für sich. Ich denke, wie schön diese Gegend doch ist, und wie selten ich aus der Stadt herauskomme. Irgendwann schließt Nicole zu mir auf.

Über Deiche, Feldwege und Trampelpfade mitten im Wald führt der Jakobsweg Via Baltica.
Pilgerherberge wird von Künstlern geführt
Die 35-jährige Berlinerin ist erst ein einziges Mal gepilgert. „Ich hatte so etwas wie eine kleine Lebenskrise“, erzählt sie. Eine Beziehung ging zu Ende, Job und Wohnung waren weg. Sie wollte nur noch raus aus Berlin. Die Wanderung war nicht leicht. Es regnete die ersten zwei Wochen durch, und dann entzündete sich ihr Knöchel. „Aber irgendwann packt dich der Ehrgeiz“, sagt Nicole. „Man will es unbedingt schaffen.“ Fünf Wochen war sie unterwegs und ist immer noch sichtlich stolz darauf.
Am Nachmittag erreichen wir Lilienthal und die Pilgerherberge, in der wir übernachten wollen: ein mächtiges Blockhaus aus ganzen Baumstämmen. Es gehört Vincent May und Johanne Oldenburger. Die beiden sind Künstler und Lebenskünstler; er stellt Kerzen her und sie macht Seife. Im Haus ist es warm und es riecht nach ätherischen Ölen und Holz.
Als ich meine Wanderschuhe ausziehe, spüre ich, dass meine Füße ziemlich schmerzen. Etwa 22 Kilometer sind wir an diesem Tag gelaufen. Auch die anderen stöhnen ein wenig – bis auf Francesc, der wirkt, als könne er noch heute bis ins Zentrum von Bremen weiterlaufen. „Die ersten Tage sind schlimm“, sagt Tine. „Aber irgendwann kannst du dir nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu machen als zu laufen.“

von links: Christine (Tine) Köffer, Nicole Schwimmer, Martin Gottschewski, Francesc Alfambra
"Durch das Pilgern kommt man zu sich selbst"
Für heute bin ich aber froh, angekommen zu sein. Johanne tischt Suppe zum Abendessen auf. Die beiden Lilienthaler betreiben die private Pilgerherberge seit ungefähr einem Jahr. Das Blockhaus hat Vincent vor zwei Jahren bauen lassen, nachdem sein altes Haus abgebrannt war. „Irgendwie erinnert es uns an ein Kirchenschiff, oder eine Arche“, erklärt er. So kamen sie auf die Idee mit der Herberge. So viele Gäste wie heute hatten die beiden allerdings noch nie. „Ich bin früher auch gewandert“, sagt Johanne. „Draußen zu sein ist für mich das Größte. Im nächsten Leben möchte ich auch pilgern und am liebsten nichts besitzen.“
Francesc gefällt die Einstellung der beiden. „Auf dem Weg in Spanien gibt es viele solche Menschen“, sagt er. „Es ist viel schöner, zu teilen. Leider sind in dieser Welt alle so fokussiert auf Besitz, auf meins und deins.“ Auch Vincent war in seiner Jugend ständig unterwegs: „Pilger sind die nächste Generation der Wanderer“, sagt er. „Durch das Pilgern kommt man zu sich selbst – oder zumindest kommt man immer schlauer zurück als vorher.“ Und was mich angeht, hat er damit recht. Selten habe ich an einem Tag so viele interessante Menschen kennengelernt wie heute – auf der Via Baltica zwischen Ottersberg und Lilienthal.