Khalil M. und Alperen T. – zwei Angeklagte in zwei aufsehenerregenden Gerichtsprozessen, die zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide standen wegen ihres rücksichtslosen Verhaltens im Straßenverkehr vor dem Landgericht. Beide waren wegen Tötungsdelikten angeklagt – wegen versuchten Totschlags der eine, wegen Mordes der andere.
Doch in beiden Fällen ließen sich diese Anklagen nicht halten. Khalil M. wurde im März 2017 wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt (zwei Jahre und zehn Monate Haft), Alperen T. Ende Januar wegen fahrlässiger Tötung (zwei Jahre und neun Monate). Und noch eine Gemeinsamkeit gibt es: Beide Verurteilte sind nach wie vor auf freiem Fuß. In beiden Fällen wurde Revision eingelegt, über die der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden hat.
Im Juni 2016 hat Alperen T. mit seinem Motorrad in Walle einen Fußgänger totgefahren. Doch nicht der Unfall an sich war es, der Aufmerksamkeit erregte, sondern vielmehr, dass der damals 24-Jährige auf einem eigenen Youtube-Kanal unter dem Titel „Alpi fährt“ spektakuläre Videos von seinen Motorradfahrten veröffentlichte.
Zu sehen waren dort unter anderem nächtliche Rasereien durch die Innenstadt und immer wieder halsbrecherische Überholmanöver. Das Ganze mit einer Helmkamera gefilmt und während der Fahrt mit großspurigen Worten kommentiert. Vor Gericht zeigte sich der Angeklagte reumütig. Unter Tränen bat er die Angehörigen seines Opfers um Entschuldigung, nie im Leben habe er daran gedacht, jemanden zu verletzen oder gar zu töten.
Die Mordanklage allerdings begann ohnehin schon bald zu wackeln. Ein Verkehrssachverständiger entlastete den Angeklagten, ebenso ein Psychologe. Letztlich rückte auch die Staatsanwaltschaft von der Mordanklage ab und plädierte auf sieben Jahre und zwei Monate wegen Totschlags. Doch auch dafür sollte es nicht reichen.
Bei Rot über die Kreuzung
Einen ähnlichen Verlauf nahm das Verfahren gegen Khalil M. Der damals 27-Jährige war im Juni 2016 mittags in der Vahr mit seinem Pkw bei Rot über eine große Kreuzung gerast, hatte dabei einen 13-jährigen Radfahrer angefahren und anschließend Fahrerflucht begangen. Der Junge lag tagelang im Koma, erholte sich dann aber wieder vollständig von seinen lebensgefährlichen Verletzungen.
Auch hier war der Fahrer nach Auffassung der Staatsanwaltschaft derart rücksichtslos vorgegangen, dass die Anklagebehörde nicht nur von einem groben Fehlverhalten im Straßenverkehr ausging, sondern dem Fahrer vorwarf, billigend den Tod von anderen Menschen in Kauf genommen zu haben. „Versuchter Totschlag“ lautete die Anklage, fünf Jahre und neun Monate Haft forderte der Staatsanwalt in seinem abschließenden Plädoyer.
Khalil M. äußerte sich monatelang nicht zu den Vorwürfen, legte dann aber nach einem Wechsel des Verteidigers kurz vor Ende des Prozesses doch noch ein Geständnis ab. Rücksichtslos und kaltschnäuzig sei das Verhalten des 27-Jährigen gewesen, attestierten ihm schließlich die Richter. Doch der bedingte Tötungsvorsatz, dass er also im vollem Bewusstsein bei Rot über die Kreuzung gefahren war und dabei billigend den Tod eines anderen in Kauf genommen hatte, sei nicht haltbar.
Zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz
An dem von der Justiz eingeschlagenen Weg führe trotzdem kein Weg vorbei, sagt Thorsten Prange, Pressesprecher am Landgericht. Die ursprünglichen Anklagen wegen Mordes und versuchten Totschlages seien schließlich nicht aus taktischen Gründen erhoben worden oder um in eine bestimmte rechtspolitische Richtung Flagge zeigen zu wollen, betont Prange, der selbst Vorsitzender Richter ist.
Die Staatsanwaltschaft prüfe grundsätzlich, zu welchem Gericht angeklagt werde. Wenn eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes in Betracht komme, sei ausschließlich das Schwurgericht zuständig, erläutert Prange. Ein Strafrichter oder eine allgemeine Strafkammer dürfe nicht wegen eines Tötungsdeliktes verurteilen.
Und in den genannten beiden Fällen habe man es jeweils mit hochriskantem Verhalten im Straßenverkehr zu tun gehabt, das sich im Grenzbereich zwischen bewusster Fahrlässigkeit („wird schon gut gehen“) und bedingtem Vorsatz („na wenn schon“) bewegt hätte. Deshalb sei der Gang vor das Schwurgericht sachlich zwingend geboten gewesen, so Prange.
Hinreichender Tatverdacht
„Wir haben in den beiden Fällen am Ende des Ermittlungsverfahrens nach Aktenlage einen hinreichenden Tatverdacht für ein vorsätzliches beziehungsweise versuchtes Tötungsdelikt bejaht“, betont auch Bremens Leitender Oberstaatsanwalt Janhenning Kuhn den sachlichen Hintergrund der Verfahren. Von einem Versuch „härterer Anklagen“ oder gar einem „Reinfall“ könne daher nicht die Rede sein.
„Die Anklagen waren Ergebnis unserer rechtlichen und tatsächlichen Bewertung im jeweiligen Einzelfall. Und dem sind die für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichte auch gefolgt.“ Sofern hier der Eindruck eines härteren Vorgehens der Staatsanwaltschaft entstanden sei, täuscht dieser. „Unsere Bewertung war auf die besonderen Sachverhalte im Straßenverkehr und nicht etwa auf unsere veränderten rechtlichen Maßstäbe zurückzuführen.“
Tatsächlich habe man in jüngster Zeit vermehrt ein besonders rücksichtsloses Verhalten von Straftätern im Bereich des Straßenverkehrs beobachten können, räumt Kuhn ein. Aber es seien eben solche besonderen Sachverhalte, die dazu führen könnten, dass die Staatsanwaltschaft im Einzelfall auch hierbei einen Tötungsvorsatz bejahe. Und ob sie damit im Fall von „Alpi“ nicht doch richtig lag, wird sich erst noch zeigen.
Anders als bei Khalil M. hat im Prozess von Alperen T. nicht nur der Verurteilte, sondern auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Möglich also, dass der Bundesgerichtshof die rechtliche Bewertung der Bremer Staatsanwaltschaft teilt. „Je nach dem Ausgang des Revisionsverfahrens bleibt daher abzuwarten, ob der Bundesgerichtshof – insbesondere für Fälle im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen – neue Leitlinien zur Prüfung des Tötungsvorsatzes aufstellen wird“, erklärt Kuhn.