Es ist nicht ganz leicht, sich ein klares Bild zu machen: Einerseits neigt eine Überflussgesellschaft zu einer gewissen Mimosenhaftigkeit und Hysterie. Aus gesellschaftlichen Veränderungen werden erst Auffällig-keiten, dann Krankheiten und schließlich Epidemien. Andererseits gibt es keinen Grund, an dem Befund zu zweifeln, dass mehr und mehr Menschen wider Willen vereinsamen und etliche nicht den Mut aufbringen, darüber zu reden. Wenn viele Freunde, ein großer Bekanntenkreis, eine Unmenge an Followern in den sozialen Netzwerken eine harte Währung sind, mit der man als sogenannter Influencer seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ist Außenseitertum nicht nur wenig einträglich, sondern beinahe unanständig.
Je mehr Menschen ein Höchstmaß an Interesse auf sich ziehen und laut in den Vordergrund drängen, desto schwerer haben es die Leisen. Unbemerkt ziehen sie sich zurück, schlimmstenfalls bis sie erst im Tod Aufmerksamkeit finden, weil sie monatelang tot in ihrer Wohnung liegen, ohne dass sie irgendwem und irgendwo fehlten, und kollektives Erschrecken auslösen: Wie konnte das passieren? Wer ist dafür verantwortlich? Die Angehörigen, die Nachbarn, die Gesellschaft, der Staat, die Toten selbst?
Die Antwort ist im Grunde denkbar einfach: alle. Die Aufgaben sind klar verteilt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, Angehörige sind überdies für Angehörige zuständig, deshalb heißen sie auch so, Nachbarn für Nachbarn. Der Staat trägt Verantwortung für die, die zu alt, zu krank oder zu arm sind, um Anschluss zu finden und ihn zu pflegen. Freiwilligenarbeit füllt die Lücken.
Das ist die universelle Verabredung der Zivilgesellschaft, die offenbar von mehr und mehr Bürgern aufgekündigt wird, heimlich, still und leise. Noch sind sie – hoffentlich – in der Minderheit. Man mag sich gar nicht vorstellen, dass es einmal anders kommen könnte.