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Kleinsthäuser in Bremen Knapp 60 Quadratmeter auf drei Etagen

Mit den sogenannten ECA-Bauten in Walle begann der Wiederaufbau im Bremer Westen. Finanziert wurden die knapp 300 Wohnungen aus dem Marshallplan. Bescheidene und schlichte Reihenhäuser dominieren die Siedlung – und üppiges Grün.
14.09.2014, 17:00 Uhr
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Knapp 60 Quadratmeter auf drei Etagen
Von Silke Hellwig

Mit den sogenannten ECA-Bauten in Walle begann der Wiederaufbau im Bremer Westen. Finanziert wurden die knapp 300 Wohnungen aus dem Marshallplan. Bescheidene und schlichte Reihenhäuser dominieren die Siedlung – und üppiges Grün.

Dass sich über Geschmack nicht streiten lässt, davon legen die sogenannten ECA-Bauten im Bremer Westen Zeugnis ab: Im Laufe der vergangenen 60 Jahre haben die Eigentümer der rund 200 Einfamilien-Reihenhäuser zwischen Steffensweg, Hansa- und Landwehrstraße ihrem ganz persönlichen Geschmack Ausdruck verliehen. Als die 18 Blocks entstanden – Anfang der 50er-Jahre als eines der größten Wiederaufbau-Projekte – sah ein Haus im Prinzip wie das andere aus, vom Grundriss über das Pultdach bis zur Fassade. Heute leuchten manche Fronten hellblau, gelb oder bräunlich, andere sind verklinkert, manche Häuser haben ein Vordach, andere einen Anbau, mit oder ohne Balkon.

ECA stand für Economic Cooperation Administration – eine US-Regierungsbehörde mit Sitz in Washington, die Marshallplan-Geld verwaltete und verteilte. Für die Wohnungsbauabteilung standen rund 37,5 Millionen Mark zur Verfügung, um die große Wohnungsnot zu lindern. In 15 deutschen Städten wurde mithilfe von amerikanischem Steuergeld Ausgebombten, Flüchtlingen und Vertriebenen ein neues Heim gebaut. Fast drei Millionen Mark flossen allein in die ECA-Siedlung nach Bremen.

Zu den Ausgebombten zählte auch Hannelore Graffstedts Familie. 1954 zog sie in der Calvinstraße ein. Hannelore Graffstedt war elf Jahre alt. Eine sechsköpfige Familie kam auf rund 60 Quadratmeter unter, verteilt über Erdgeschoss und zwei Etagen, plus kleinem Garten. „In anderen Häusern lebten sogar Familien mit zehn Kindern“, sagt Hannelore Graffstedt. Nicht wegen ihrer Größe waren die Entwürfe für die Blocks zunächst nicht bei jedermann auf Gefallen gestoßen, sondern wegen ihrer strengen, schlichten, funktionalen Form, ersonnen von der Architekturgemeinschaft Hebebrand, Schlempp und Marschall. Die künftigen Bewohner freundeten sich jedoch bald mit dem „fortschrittlichen Wohnungsbau“ an, aus gutem Grund, wie diese Zeitung festhielt: „Gott sei Dank, wir erhalten wieder ein eigenes Dach überm Kopf. An das Moderne müssen wir uns eben gewöhnen.“

Bei Hannelore Graffstedts Familie funktionierte das offenbar tadellos. „Denn die Gemeinschaft war hier sehr gut. Man hat sich geholfen, und man hat gemeinsam gefeiert. Wir sind gleich aufgenommen worden in den Club der Calviner, wie wir scherzeshalber immer gesagt haben.“ Die Gemeinschaft war wichtig, der Raum dafür winzig, die gute Stube 16 Quadratmeter groß. „Die Gäste haben auch auf der Treppe gesessen“, erzählen Graffstedts.

Ein neues Zuhause für viele Bremer, dazu noch erschwinglich, und das möglichst schnell – das war die Maxime des sozialen Wohnungsbaus in den 50er-Jahren. Mehr als die Hälfte der Wohnungen in Bremen waren durch den Krieg zerstört oder unbewohnbar. Hannelore Graffstedt erinnert sich: „Um unsere Häuser herum war nichts mehr, man konnte bis zur Waller Heerstraße gucken.“ Die ECA-Siedlung wurden allen Ansprüchen gerecht: Verbaut wurden Weserziegel – hergestellt aus Ziegelmehl aus Ruinen-Schutt, und die „monatlichen Baraufwendungen“ für die Bewohner wurden mit 33,70 Mark taxiert.

Den Architekten, die sich über einen Wettbewerb für das enorme Bauprojekt empfahlen, habe die Bauhaus-Philosophie, „Licht, Luft und Sonne“ am Herzen gelegen, sagt Doris Müller. „Weil es hier so hell und grün ist, habe ich mich in in diese Siedlung verliebt.“ Das ist gut zehn Jahre her. Ihr Reihenhaus ist noch fast komplett im Ursprungszustand erhalten und war deshalb schon Ziel einer Exkursion von Architekturstudenten. „Das hier ist ja auch ein architektonisches Juwel“, sagt Doris Müller. Allerdings sei zu befürchten, dass es Schaden nehme, „durch eine unnötig unsensible Planung“. Die Gewoba will auf ihrem Grund und Boden, der direkt an die Reihenhaus-Siedlung grenzt und die drei sogenannten Laubengang-Häuser mit ECA-Mietwohnungen umfasst, weitere Blocks bauen. Die ECA-Bewohner haben Protest angemeldet und Unterschriften gesammelt – bislang vergebens.

Nicht nur Doris Müller hat sich mit dem Wiederaufbau im Bremer Westen befasst, auch Achim Saur vom Kulturhaus Walle/Brodelpott trägt Informationen zu den Gebäuden, zu ihrem Heute und Gestern zusammen. Ihn interessiert nicht nur die Art des beschleunigten Bauens, „völlig neu für Bremen“, sondern auch die „neue Form der Nachbarschaft“, die durch den Wiederaufbau entsteht. Das klassische Bremer Haus habe sich nicht nur in der schnörkeligeren Form, sondern auch durch das Zusammenleben mehrerer Parteien mit einem gemeinsamen Flur unterschieden. „Ich will wissen: Was passiert eigentlich, wenn sich in eine Stadt in so großen Teilen neu erfindet“, sagt Saur.

Die Nachbarschaft habe sich verändert, gewiss, das sei der Lauf der Zeit, sagen Graffstedts. Auch ihr Haus ist nicht mehr das, was es früher war. Es wurde renoviert und mit einem Anbau erweitert. „Wir sind glücklich und zufrieden hier“, sagt Alfred Graffstedt. So geht es offenbar nicht nur alteingesessenen „Calvinern“ – wenn einmal ein Reihenhaus in der ECA-Siedlung zum Verkauf steht, ist es laut Ehepaar Graffstedt auch ruckzuck wieder vom Markt.

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