Herr Letonja, wenn ein Jugendlicher Sie fragt „Warum soll ich in ein Sinfoniekonzert gehen?“, was antworten Sie?
Marko Letonja: Mir ist diese Frage tatsächlich einmal gestellt worden, meine Antwort war: Weil die Band größer ist als die, die du kennst. Und der Sound ist farbiger. Energie kann man auch mit Strom erzeugen, sicher, aber die geballte Energie von 80, 90 Köpfen trifft direkter und ist nur bei einem Livekonzert zu erleben.
Warum soll man klassische Musik hören? Viele Menschen sind mit Rap oder Schlager ganz zufrieden.
Die Frage muss man größer stellen: Warum ist Kunst überhaupt wichtig? Mir ist es lieber, nicht in Schubladen zu denken. Man sollte überall nach guter Musik Ausschau halten. Es gibt ja auch in der klassischen Musik schlechte Stücke. Die Bedeutung der klassischen Musik ist für mich identisch mit der Bedeutung von Literatur: Warum muss man Romane oder Theaterstücke weltweit übersetzen? Weil sie offenbar etwas mitteilen, das uns alle angeht.
Aber stirbt der Bildungsbürger, der vor einer Kulturveranstaltung in den Konzert- oder Opernführer guckt, nicht allmählich aus?
Problematischer scheint mir, dass der Zugang zur Kunst für uns durch das gesellschaftliche System nicht mehr überall gewährleistet ist. Ich bin ein Verfechter des Systems, das sich seit 1800 etabliert hat, nämlich dass der Staat den Zugang zur Kultur ermöglicht. Ich hätte selbst nicht Musik studieren können, wenn meine Eltern dafür hätten bezahlen müssen.
Wie waren die Verhältnisse in Ihrem Elternhaus?
Mein Vater war Metallurg in einer Fabrik im slowenischen Kärnten, meine Mutter war als Buchhalterin und Lehrerin tätig. Für die Verhältnisse im damaligen Jugoslawien waren wir nicht reich, aber auch nicht arm. So fühlten wir uns nur im direkten Vergleich zu unserem Nachbarn Österreich. Das merkte man spätestens, wenn man über die Grenze gegangen ist, was bei uns jede Woche geschah; ich bin Luftlinie zehn Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt großgeworden. Bei uns war der Zugang zur Kultur frei und erschwinglich. Ich habe ab 1976 Klavier studiert und konnte auf der Bühne in Ljubljana die großen Künstler wie David Oistrach, Mstislaw Rostropowitsch oder Carlos Kleiber erleben, das war für uns selbstverständlich. Vom Gehalt meines Vaters hätten wir uns dagegen keinen Abend in der Wiener Staatsoper leisten können.
Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt hat einmal sinngemäß gesagt: Wenn die jungen Leute erst mit dem Disco-Beat verwachsen sind, sind sie für die klassische Musik verloren. Glauben Sie, das stimmt?
Ich stimme ihm zu. Man sollte so früh wie möglich und spätestens bis zum Alter von zehn Jahren live mit klassischer Musik in Berührung kommen. Beste Lautsprecher zu Hause ersetzen nicht das direkte Erlebnis, das ist bei uns klassischen Musikern deutlicher zu spüren als bei einer Rockband. Klassische Konzerterlebnisse verbinden und vermitteln Eindrücke und Empfindungen, die zur allgemeinen Bildung beitragen und uns im besten Falle zu einer offenen, toleranten Gesellschaft werden lässt. Das ist krisenbehafteten Zeiten mit ihren vielen politischen Problemen besonders wichtig: Dass wir das Humane nicht vergessen.
Sind die Grenzen zwischen E- und U-Musik heute durchlässiger?
Crossover hat es schon immer gegeben. Ich bin da in alle Richtungen geimpft, habe mit der Rockband The Doors angefangen und gehe heute noch in AC/DC-Konzerte. Das erste Crossover-Konzert, das ich gehört habe, war Deep Purple mit Sinfonieorchester. Ich war auch ein großer Fan der Band Emerson, Lake and Palmer, die klassische Musik elektronisch interpretiert hat. Leos Janáceks „Sinfonietta“ habe ich als Erstes in dieser Version kennengelernt. Heute schreiben manche Komponisten bewusst über diese Grenzen hinweg. Es gibt Stücke für Saxofon, die sind so funky, da können Sie nicht mehr sagen, was da klassische Musik und was Jazz ist. Der Sprung über die Linien macht weniger Probleme.
Klassische Musik ist im Alltag oder im Fernsehen weniger präsent als vor 50 Jahren. Wie kann man ein junges Publikum erreichen?
Wenn man Mut hat, kann sich das eine oder andere Herz öffnen. In Basel habe ich vor Jahrzehnten ein sinfonisches Stück gemeinsam mit dem Rapper Saul Williams aufgeführt, ein Riesenaufwand, und der Kartenverkauf war erbärmlich. Doch als er plötzlich in einem Plattenladen von Fans umringt war und mir klar wurde, das ist der Michael Jackson der Rap-Szene, haben wir im Radio ein Interview gesendet. In kürzester Zeit waren mehr als 1000 Karten verkauft – und am Abend fast nur junge Leute im Saal. Ein anderes Beispiel: Ich habe mal ein Schülerkonzert mit einer Rave-Choreografie zu Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ dirigiert. Anschließend haben mich sicher 20 Kinder gefragt: Wo kann man diese Musik kaufen? Was ist das für eine Band? Und ich weiß bis heute nicht mal, was Rave ist.
Braucht man Vorwissen, wenn man in ein Konzert geht?
Jein, es kommt natürlich auf das Repertoire an. Im Prinzip ist es unsere Aufgabe, die Musik so plastisch, farbenreich und inhaltsreich zu spielen, dass sich eine Aussage mitteilt. Ein offenes Herz und offene Ohren genügen. Letztlich gilt der alte Satz, der Frank Zappa zugeschrieben wird: Über Musik zu reden, ist wie über Architektur zu tanzen. Aber es gibt auch Fälle, in denen man ein kompliziertes Stück vorher kurz erklärt, um die unsichtbare Mauer zwischen Publikum und Bühne aufzuheben.
Konzerte haben Regeln. Man zieht sich chic an, klatscht nicht zwischen Sätzen, tanzt oder singt nicht mit. Sind das nicht überholte Rituale?
Das Klatschen etwa nach einem virtuosen ersten Satz hat mich nie gestört. Ich würde mich nie umdrehen und „scht“ sagen. Natürlich gibt es Stücke, die so atmosphärisch sind, dass man einen ungestörten Übergang braucht, aber das ist dann wieder unsere Aufgabe. Tanzen ist aus Platzgründen problematisch, ich habe aber sogar schon einen Dirigenten erlebt, der Beethovens Fünfte mitgesummt hat – immer einen Takt vorweg. Und was die Kleidung betrifft, bin ich kein eiserner Traditionalist. Viele Orchester probieren neue Wege weg vom Frack. Und im Publikum zeigt sich schon länger ein Wandel. Wenn mir hinterher ein Hörer in zerrissenen Jeans mitteilt, wie sehr ihn die Musik berührt hat, ist die Etikette unwichtig.
Sie sind vor allem Konzertdirigent. Muss man das klassische Sinfoniekonzert neu erfinden?
Alle Orchester weltweit beschäftigen sich mit dieser Frage. Schon Wilhelm Furtwängler hat zur Programmgestaltung gesagt: Erst ein Stück von Haydn, dann ein Klavierkonzert von Mozart, dann eine Beethoven-Sinfonie – was ist das? Langeweile! Ein Abend braucht Kontraste; wenn überall auf der Welt dieselbe Formel regiert, erstarrt das Konzertwesen. Daran müssen wir alle stärker arbeiten. Ich habe – nicht in Bremen – einmal einen billigen Trick angewendet und die ausgedruckte Konzertfolge unangekündigt umgedreht. Weil es mich störte, dass viele Leute regelmäßig das zeitgenössische Stück am Anfang ausließen und erst danach in den Saal kamen. Das hat mir viel Ärger eingebracht.
Kommen wir zu den Bremer Philharmonikern. Alle Musiker sind hoch qualifizierte Spezialisten auf ihren Instrumenten. Aber haben sie auch Hobbys oder Seitenbegabungen, von denen wir nichts wissen?
Es gibt viele Freizeit-Fußballer. Ein Hornist ist als Imker tätig, wir haben jetzt Bienen auf unserem Dach im Tabakquartier, demnächst ist die erste Ernte. Außerdem besitzt er 40 Hühner und versorgt das ganze Orchester mit Eiern. Unsere japanische Fagottistin und eine japanische Bratschistin bieten Teezeremonien an. Und mehrere Musiker engagieren sich als „Klimagruppe“ stark für den bundesweiten Verein „Orchester des Wandels“. Sie kombinieren da zum Beispiel Musik mit unterhaltsamen Auftritten von Wissenschaftlern. So gab es erst kürzlich eine Fahrt im „Moor-Express“ mit Musik und kurzen Vorträgen. Auch bei der Eröffnung der „Ozeanien“-Ausstellung 2025 im Übersee-Museum wird die Klimagruppe dabei sein.
Es wird heute mehr darauf geachtet, wie divers ein Orchester aufgestellt ist – wie viele Frauen, wie viele Schwarze wirken mit? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Der Anteil Frauen-Männer bei den Bremer Philharmonikern ist fast 50:50. Wir haben eine Konzertmeisterin und 13 leitende oder stellvertretende Stimmführerinnen. Blech und Schlagwerk sind offenbar traditionelle Männerdomänen. Grundsätzlich gilt: Vorspiele finden bei vielen Orchestern weltweit hinterm Vorhang statt. Das einzige Kriterium für die Wahl von Musikern ist das Audio-Kriterium, also das, was man hört. Es kommt auch immer wieder mal vor, dass Stellen gar nicht besetzt werden, weil einfach kein Bewerber die nötige Qualität mitbringt. Fest steht: Die Bremer Philharmoniker würden niemanden aufgrund des Äußeren, der Herkunft oder der sexuellen Identität ablehnen, entscheidend ist die Leistung am Instrument und nach dem Probejahr auch die menschliche Einbindung.
Orchester, die viel in Oper und Konzert auftreten, neigen dazu, mitunter wie ein verlässlicher Beamtenapparat zu agieren. Wie kitzeln Sie jedes Mal wieder das nötige Quantum Inspiration heraus?
Eine berechtigte Frage. Ich glaube, es gibt keine guten und schlechten Orchester, es gibt nur gute und schlechte Dirigenten. Anders gesagt: Es gibt Dirigenten, die motivieren und erziehen und solche, die es nicht herausfordern. Ein Carlos Kleiber hat aus der Slowenischen Philharmonie erstklassige Musik herausgeholt.
In welcher Form hat sich Ihr Repertoire verändert und erweitert?
Ich war seit 1987 immer auch künstlerischer Leiter, da achtet man darauf, dass man nicht nur seinem eigenen Geschmack folgt. Am liebsten dirigiere ich Komponisten, die Türen in die Zukunft geöffnet haben wie Ludwig van Beethoven, Leos Janácek, Béla Bartók, Arnold Schönberg oder György Ligeti. Wenn ich Gastdirigenten einlade, locke ich sie auch gern mit sogenannten Chefstücken. Damit sind attraktive große Werke gemeint, aber ich habe diesen Begriff nie ganz verstanden. „Eine kleine Nachtmusik“ von Wolfgang Amadeus Mozart, scheinbar so harmlos, ist für mich unbedingt ein Chefstück. Sie gehört für mich mit Abstand zu den schwierigsten Stücken überhaupt und nicht etwa die Achte von Gustav Mahler.
Gibt es Werke, die Sie gar nicht dirigieren?
Nicht zu Hause bin ich in der vorklassischen Musik. Das habe ich nicht studiert, das überlasse ich den Spezialisten. So habe leider nie Bach dirigiert. Aber dafür höre ich mir alles von ihm in Konzerten an, so kompensiere ich das. Dankbar bin ich, dass ich keine zweitklassigen Ballettmusiken von Léon Minkus mehr dirigieren muss, was ich in meiner Anfangszeit als Dirigent sechs Jahre lang getan habe. Oder die sogenannte 2. Jazzsuite von Dmitri Schostakowitsch, die eigentlich aus seinen Filmmusiken als Suite für Promenadenorchester von seinem Komponistenfreund Levon Atovmyan arrangiert und später durch die Interpretation von André Rieu weltberühmt geworden ist.
Rieu erreicht mit seinen populären Arrangements immerhin Millionen Menschen.
Die Kommerzialisierung von Kunst ist ein anderes Kapitel. Das hat es immer gegeben. Ich finde aber: Unsere Gesellschaft ist verantwortlich dafür, dass man auch die Sachen, die nicht kommerziell sind, fördert. Dass man nicht sagt, etwas, das nicht kommerziell erfolgreich ist, gehört nicht auf die Bühne. Sonst käme am Ende eine oberflächliche, intolerante Gesellschaft heraus, in der ich nicht leben möchte.
Muss ein Dirigent ein guter Moderator sein?
Das kann gewisse Vorteile haben, sollte aber das Handwerk nicht ersetzen. Dem Publikum bietet man eine andere Farbe, kann die Musik näherbringen. Beim Orchester hilft ein gewisses Moderationstalent auf jeden Fall. Es ist meine Aufgabe, eine Probe so zu gestalten, dass die Musiker sie nicht als Quälerei oder unerträgliche Machtdemonstration wahrnehmen, sondern als Austausch, bei dem man einander zuhört. Unsere von Claudio Abbado geprägte Dirigentengeneration hat gelernt, dass die demokratische Seite unseres Berufs wichtiger ist als die autokratische. Dann verdient man sich die Aufmerksamkeit des Orchesters von allein. Wenn ein Solist oder eine Gruppe eine Phrase so schön gespielt hat, dass alle inspiriert sind oder der Dirigent so einen guten Witz erzählt hat, dass alle wissen, in welchem Film sie spielen, springt der Funke schnell über.
Würden Sie so weit gehen wie Abbado und die Musiker duzen? Oder bleiben Sie beim Sie?
Mein Lehrer Otmar Suitner, ein bedeutender Dirigent, hat gesagt: Duzen Sie keinen Musiker im Orchester. Die Musiker haben genau dieselbe Ausbildung wie Sie, sind zum Teil bessere Musiker als Sie, und die meisten haben mehr Erfahrung als Sie. Deswegen müssen Sie aus Respekt die Musiker, die vor Ihnen sitzen, siezen. Was er mir auch gesagt hat: Jedes Theater hat eine Kantine, da dürfen Sie nicht rein. Ich verwende weltweit einen Trick, weil es mir leichter fällt: Ich spreche die Musiker mit Vornamen an und sieze sie. Wenn jemand mit Nachnamen angesprochen werden möchte, ist das auch kein Problem. Umgekehrt möchte ich nicht als Maestro angesprochen werden. Marko oder Herr Letonja, das geht beides.
Wann dirigieren Sie mit, wann ohne Taktstock?
Beim ersten Mal, als ich ohne Taktstock dirigiert habe, hatte ich ihn im Hotel vergessen. In der Oper wird es ohne Taktstock schwierig: Es ist dunkel im Graben, dort können die Musiker einen weißen Stock besser erkennen. Im Konzert lege ich ihn manchmal weg, weil ich glaube, dass ich eine Phrasierung mit der rechten Hand – ich bin Rechtshänder – besser anzeigen kann als mit links.
Was machen Sie mit dem Blumenstrauß, den Sie am Ende des Konzerts bekommen?
Ich habe in Bremen gleich am Anfang mit der Intendanz den Deal geschlossen, dass ich als ständiger Dirigent keine Blumen bekomme. Das Budget kann man besser am Schluss der Saison für eine kleine Feier mit dem Orchester verwenden. Anderswo mache ich es wie drei Viertel meiner Kollegen: Die Konzertmeisterin oder eine andere Solistin im Orchester erhält den Strauß. Eine einzige Ausnahme: Wenn ich, viel zu selten, in Slowenien dirigiere, nehme ich den Strauß und gebe ihn meiner Mutter.
- Das Gespräch führte Sebastian Loskant.