Kurz vor Mitternacht am Sonnabend. Die zweite Nacht des Urban-Art-Festivals „Hidden Treasure“ hat sich über die Überseeinsel gelegt: Melodischer Techno schallt über das Kellogg-Gelände, Gespräche zwischen den Gästen sorgen für ein sanftes Grundrauschen. Einige Besucher wippen vor der Bühne im Takt der Musik, manche bestellen sich etwas an den Getränkepavillons und Foodtrucks. Wieder andere tummeln sich vor dem Highlight des Festivals: einem 50 Meter breiten und sieben Meter hohen Schwarzlichtkunstwerk.
Sieben Flutlichter heben die Neonfarben feuriger Figuren und lodernder Buchstaben des Wandgemäldes von der nächtlichen Dunkelheit ab. Erst vor wenigen Stunden haben 21 internationale Sprayer ihr Gesamtwerk an der Hauptwand vollendet. Eingeteilt in sieben Teams mit je drei Künstlern erhielten sie jeweils einen 42 Quadratmeter großen Teil der Lagerhalle auf dem Kellogg-Gelände zur freien Gestaltung. 29 weitere Sprayer haben ihre Bilder auf Nebenwänden gemalt.
"3 Sprayer für ein Halleluja"
„Gegen 17 Uhr sind wir mit unserem Teil fertig geworden“, sagt Benjamin Calliari-Herzberg. Auf einem Video zeigt der Münchner, wie er auf einer Hebebühne in fast sechs Metern Höhe die zwei Künstlernamen seiner Teammitglieder Kaser und Hidra sowie seinen eigenen, Pyserone, in blauer Farbe an die Wand gebracht hat. Das Team nennt sich „3 Sprayer für ein Halleluja“. Hidra ist die einzige Frau an der Hauptwand. Die spanische Sprayerin, die in Dortmund lebt, möchte ihren Klarnamen nicht öffentlich machen.
Der Schaffensprozess ist fester Bestandteil des „Hidden Treasure“, um Gästen Einblicke in die Kunst des Sprühens zu gewähren. Das Urban-Art-Festival wurde vom 18. bis zum 20. August zum zweiten Mal von Lucky Walls, einer Bremer Agentur für Graffiti und Urban Art, veranstaltet. „Für uns ist das eine Herzensangelegenheit“, sagt Inhaber Peter Stöcker.
Der 38-Jährige hat in der Kindheit angefangen, illegale Graffiti zu malen. „Da fehlten das Schuldbewusstsein und das Wissen darum, wie ich an legale Wände komme“, sagt er. Heute interessiere er sich dafür, urbane Kunst und Unternehmertum nachhaltig zusammenzubringen. Da fügte es sich, dass Klaus Meier, Geschäftsführer der Überseeinsel, 2022 in dem künftigen gleichnamigen Quartier eine Lagerhalle zur Verfügung hatte und die Grundfinanzierung eines Festivals zusicherte. „Mein persönliches Ziel ist es, Bremen als Zentrum für urbane Kunst und Kultur in ganz Europa zu etablieren“, sagt Stöcker. Er sei Perfektionist, manchmal gingen ihm Dinge daher nicht schnell genug.
Dass das nicht dahergesagt ist, zeigt sich am ersten Tag des „Hidden Treasure“. Die Künstler haben an der Wand die ersten Linien gezogen, und die ersten Gäste kommen. Während Stöcker äußerlich in Shirt und Jogginghose locker daherkommt, macht er einen innerlich angespannten Eindruck.
Ruhe bewahren
Auch Kaser aus Berlin, bürgerlich Danny Spangenberg, ist am ersten Tag etwas nervös: „Als ich am Freitag um acht Uhr auf dem Gelände war, um die ersten Linien zu ziehen, hat unserem Team die Arbeitsbühne gefehlt“, erzählt der Teamkollege von Pyserone. Da sei er etwas unruhig geworden. Als er schließlich anfangen konnte, geriet alles etwas zu klein, er musste noch einmal überstreichen und neu malen. „Von da an lief es“, sagt er. Wie Pyserone hat Kaser die sogenannte Stylez, also Buchstaben, gemalt, die aus dem Kopf einer Frau wie Blitze strahlen. Hidra wiederum sprühte die Figur.
Das Bild des Teams fügt sich in das diesjährige Motto des riesigen Wandgemäldes: „We bring the Heat“. „Es geht um Wärme, Feuer, Leidenschaft und auch um Liebe“, sagt Peter Stöcker. Die Grundfarben waren vorgegeben: Blau, Rot, Orange und Geld. Hinzu kam eine Auswahl an Neonfarben, die im Schwarzlicht schließlich für die Strahlkraft in der Nacht sorgen sollten.
Experiment Schwarzlicht
Spangenberg schätzt an der Kunst die Freiheit. Dass der Veranstalter ein Konzept vorgibt, empfindet er nicht als Widerspruch dazu. „Es ist spannend, zu sehen, wie andere Gruppen das Konzept umsetzen. Das Individuum tritt zurück, das Kollektiv hervor“, sagt er. Zudem mag er das Experiment mit dem Schwarzlicht. Im vergangenen Jahr, der Premiere des „Hidden Treasure“, habe er den Effekt der Neonfarben unterschätzt: „Tagsüber hat das Bild funktioniert, nachts nicht.“
Experimente spielen auch noch während des Festivals bei Kaser, Hidra und Pyersone eine Rolle. Zwar bereiteten sie vorab Skizzen vor, am Ende hätten sie aber doch immer wieder improvisiert. Das Ergebnis: „Wir sind sehr zufrieden. Es ist das beste Bild, das ich bisher gemalt habe“, sagt Spangenberg am Sonntag vor seiner Abreise.
Auch Peter Stöcker wirkt am letzten Tag des Festivals wesentlich gelöster: „Ich werde mir jetzt alles in Ruhe anschauen.“ Das Konzept habe funktioniert, alle Künstler hätten sich daran gehalten. Das Ergebnis sei fantastisch. Aber wie die Neonfarben bei Nacht schimmert kurz sein Perfektionismus durch: Er sehe, wo er sich steigern könne. 2024 will er das tun. Bis dahin bleibt das Werk, zu dem Kaser, Pyserone und Hidra beigetragen haben, auf der Wand der Lagerhalle.