Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

In Bremerhaven entwickelt Mit diesem Online-Tool können Sie den Klimawandel simulieren

Wie viel Klimawandel steckt in unserem täglichen Wetter? Ein Online-Tool des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven gibt mit einem neuen Ansatz Antworten – und das fast in Echtzeit. Die Hintergründe.
22.12.2024, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Björn Lohmann

Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen – die Wetterextreme nehmen infolge des Klimawandels in Häufigkeit und Intensität zu. Doch wie wäre unser Wetter ohne die Effekte des Klimawandels? Und wie wäre es gewesen, wenn heute schon die volle Klimakatastrophe geherrscht hätte? Ein Forschungsteam des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven hat genau das nun errechnet und über eine interaktive Website veranschaulicht.

Im Jahr 2023 hat die globale Durchschnittstemperatur erstmals den vorindustriellen Vergleichswert um 1,5 Grad Celsius übertroffen. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es immer und überall ohne den Klimawandel 1,5 Grad kälter gewesen wäre. „Wir haben nicht jeden Tag die gleiche Erwärmung aufgrund des Klimawandels“, erläutert Helge Gößling, Klimaphysiker am AWI. Das hänge allein schon davon ab, ob die Winde Luft vom Atlantik herbeitragen oder über den Kontinent. „So ändert sich der Fingerabdruck des Klimawandels von Tag zu Tag.“

Überhaupt hat sich die Klimaforschung lange gescheut, einzelnen Wettersituationen eine konkrete Rolle des Klimas zuzuweisen. „Das war in den Köpfen so drin: Wenn wir Aussagen über das Klima machen, dann schauen wir über mindestens 30 Jahre, und nicht nur auf Mittelwerte, sondern auch auf die Verteilung von Extremen und deren Verschiebung“, erzählt Gößling. 2003 erschien dann ein Fachartikel, der darlegte, dass man sehr wohl mit statistischen Methoden den Anteil des Klimawandels am Wetter bestimmen könne.

Lesen Sie auch

„Im Laufe der letzten 20 Jahre ist dieser sogenannte probabilistische Ansatz perfektioniert worden“, berichtet Gößling. Dazu simulieren unterschiedliche Klimamodelle eine Vielzahl von Durchläufen und vergleichen dann, wie sich die Wahrscheinlichkeiten von Extremereignissen verändern, wenn die Atmosphäre mehr CO2 enthält, es also global wärmer ist. Fachleute sprechen von einer Ensemble-Simulation, durch die natürliche Schwankungen besser eingeordnet werden können.

Windmuster bestimmen das Wetter

Das AWI hat jetzt einen ergänzenden Ansatz vorgestellt, um den Einfluss der Erderwärmung auf das Wetter anschaulich zu machen – den Storyline-Ansatz. „Wir schauen nicht in Simulationen und Statistiken, wie oft etwas passiert“, erläutert Gößling. „Wir nehmen unser bewährtes Klimamodell und zwingen es, die gleichen Winde zu reproduzieren, wie sie in den letzten Jahren beobachtet wurden.“ Denn die Windmuster – insbesondere der Jetstream – bestimmen unser Wetter in Europa. Eine blockierende Wetterlage im Sommer bedeutet etwa eine Hitzewelle. Auf diese Weise bildet die Simulation zunächst das Wetter ab, wie es dem heutigen Klima entspricht.

In einem zweiten Schritt verändern die Forscher Modellparameter wie den Gehalt von Treibhausgasen und Aerosolen in der Atmosphäre. Einmal definieren die Forscher die Werte so, dass sie der vorindustriellen Erde entsprechen. Ein anderes Mal entsprechen die Werte einer Erde, die gegenüber der vorindustriellen Zeit um vier Grad heißer geworden ist.

Außerdem simulieren die Forscher die Ozeane so, als würden die definierten Werte schon eine Weile lang herrschen – denn die Ozeane reagieren verzögert auf den Klimawandel. Die Winde aber, die maßgeblich die Wetterschwankungen bestimmen, bleiben in allen Szenarien unverändert so, wie sie tatsächlich geherrscht haben. „So können wir uns Zwillinge von Extremereignissen ansehen, aber in verschiedenen Klimata“, erklärt Gößling.

Klimawandel setzte auf Hitzewelle noch drei Grad drauf

Die Hitzewelle, die Deutschland 2019 heimsuchte, wäre demnach ohne Klimawandel in der Spitze mit 37 statt 40 Grad Celsius weniger intensiv ausgefallen. In einer möglichen, global vier Grad wärmeren Zukunft hätten wir jedoch Temperaturen von 47 Grad ertragen müssen. Das Sturmtief Boris, das im September dieses Jahres für Überschwemmungen und Tote in Mittel- und Osteuropa sorgte, hätte ohne Klimawandel neun Prozent weniger Regen gebracht. Dann nämlich wäre das Mittelmeer kühler gewesen, weniger Wasserdampf wäre in der Luft gewesen, und das Tiefdruckgebiet hätte sich dort auf seinem Weg weniger stark „auftanken“ können.

Dank eines vom AWI entwickelten Onlinetools lässt sich nun – mit wenigen Tagen Verzögerung – für jede Person frei zugänglich nachschauen, wie das Wetter in Deutschland (und anderen Regionen der Erde) ohne Klimawandel gewesen wäre – und wie wir es in einer noch heißeren Zukunft erlebt hätten.

Am 25. November 2024 etwa hätte Deutschlands äußerster Westen kaum etwas vom Klimawandel gemerkt, während der Südosten bis zu drei Grad zu warm gewesen wäre. In einer global vier Grad wärmeren Welt wäre der Klimawandel an jenem Montag jedoch überall in Deutschland zu spüren gewesen, Teile Bayerns und Baden-Württembergs hätten sich noch einmal um weitere fünf Grad mehr erwärmt als heute.

Lesen Sie auch

„Ein paar Grad oder ein paar Prozent Niederschlag klingen wenig, können aber einen riesigen Unterschied machen“, warnt Gößling. Es könnten die paar Prozent sein, die darüber entscheiden, ob ein Fluss über die Ufer tritt, ein Damm bricht oder eine Kanalisation überläuft. „Gleiches gilt für Hitze: Bis zu einem bestimmten Punkt ist alles irgendwie noch okay, aber dann wird es kritisch.“

Gerne würde der Klimaphysiker daher auch veranschaulichen, wie sich der Klimaeffekt im Wetter konkret auf das Leben der Menschen auswirkt. Dafür müsste man jedoch weitere Daten und Modelle einbinden, um etwa auszuwerten, wie sich die erhöhten Niederschlagsmengen zu Überflutungen auswirken. „Da sind wir gemeinsam mit Partnern in mehreren Projekten dran“, sagt Gößling. Was sich schon jetzt dank des neuen Online-Tools sagen lässt: Der Klimawandel ist in Deutschland bereits heute tagtäglich messbar – nicht nur bei Extremereignissen.

Zur Sache

Wieso war 2023 so heiß?

Die globale Durchschnittstemperatur lag 2023 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Wert: Jahre früher, als Fachleute das erwartet hatten. Der CO2-Gehalt in der Atmosphäre, das Klimaphänomen El Niño und weitere Faktoren konnten bislang nur 1,3 Grad erklären. Jetzt haben AWI-Forscher die Ursache der fehlenden 0,2 Grad identifiziert: Es gab ungewöhnlich wenig niedrighängende Wolken. Alle Wolken reflektieren Sonnenstrahlung und kühlen so die Erde. Hoch hängende Wolken halten jedoch auch einen Teil der von der Erde abgestrahlten Wärme in der Atmosphäre zurück. Gäbe es von ihnen weniger, würden sowohl ein kühlender als auch ein wärmender Effekt verloren gehen. Gibt es weniger niedrig hängende Wolken, entfällt jedoch nur deren kühlende Wirkung. Da manches dafür spricht, dass sowohl die sauberere Luft als auch der Klimawandel selbst den Wolkenschwund bewirkten, könnte die Erde somit einer dauerhaften globalen Erwärmung um 1,5 Grad und mehr näher sein, als bislang gedacht.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)