Finsternis rund um die Uhr und Durchschnittstemperaturen von minus 15 Grad Celsius: Der arktische Winter und die Polarnacht machen Ny-Ålesund, die nördlichste Siedlung der Welt, monatelang zu einem unwirtlichen Ort. Da wundert es nicht, dass Forschungsdaten aus der Arktis zum überwiegenden Teil in den Frühlings- und Sommermonaten gewonnen werden.
„Wir würden aber gern wissen: Wie verändert der Klimawandel die Empfindlichkeit der Ökosysteme in den anderen Jahreszeiten?“, erzählt Clara Hoppe, Biologin am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI). Denn an kaum einem Ort der Welt verläuft die Klimaerwärmung so schnell wie in der Arktis. Und an kaum einem Ort hat das Leben mit Kälte, Dunkelheit und knappen Nährstoffen zu kämpfen.
Im August hat das AWI deshalb das Projekt YESSS begonnen – Year-round EcoSystem Study on Svalbard. Ein Jahr lang werden jeweils zwei Forscher in Sechs-Wochen-Schichten in Ny-Ålesund auf Spitzbergen die Forschungsstation AWIPEV besetzen. Sie werden mit einem kleinen Schiff einmal pro Woche aufs Meer fahren und dort die Wasserverhältnisse untersuchen: Wie warm, salzig, hell und nährstoffreich ist das Meer in welcher Tiefe?
Außerdem werden sie bestimmen, welche Arten sie dort antreffen. Zusätzlich führen die Forscher Experimente an vier Schlüsselarten der Arktis durch, an Polardorsch, Seeigel, einer Makroalge und Phytoplankton. In von Meerwasser durchströmten Aquarien mit regulierter Temperatur wollen die Fachleute herausfinden, wie die Organismen auf erhöhte Wärme zu den unterschiedlichen Jahreszeiten reagieren.
40 Menschen, 20 Holzhäuser
Hoppe leitet das Projekt YESSS und ist kürzlich erst von einem siebenwöchigen Aufenthalt auf Spitzbergen zurückgekommen. Ein 30-minütiger Flug mit einer Propellermaschine bildet die Verbindung zur Hauptstadt von Spitzbergen. Unterhalten wird sie von einem Unternehmen, das bis in die 1970er-Jahre in Ny-Ålesund Kohle abgebaut hat. Seitdem betreibt die Firma dort die Logistik eines Forschungsstandorts, vermietet Wohngebäude und Labore, bewirtschaftet die Kantine und was sonst so zur Infrastruktur gehört.
Dauerhaft lebt heute niemand mehr vor Ort. Die Logistik-Mitarbeiter und die Forscher von zwölf Instituten aus mehreren Ländern summieren sich auf 30 bis 40 Personen im Winter und bis zu 180 Personen im Sommer.
Hoppe arbeitet seit zehn Jahren regelmäßig in Ny-Ålesund. Sie kennt die gut 20 Holzhäuser der Siedlung. Da ist etwa das blaue Haus, in dem die AWI-Forscher oben in Zweibettzimmern schlafen und im Erdgeschoss Büroräume und ein gemeinsames Wohnzimmer nutzen. Zentral liegt das Servicegebäude mit Waschmaschinen und Rezeption, Küche und Messe, wo stets alle zur gleichen Zeit zum Essen zusammenkommen.
Außerdem besitzt das Gebäude einen Sozialraum, in dem wöchentlich ein Bar-Abend stattfindet. Rund 500 Meter entfernt befindet sich das Meer und mit ihm das Labor, direkt am kleinen Hafen mit dem Forschungsschiff Teisten. „Im Winter, wenn man nicht weit gucken kann, ist es ganz schön aufregend, die 500 Meter zu laufen“, berichtet die Projektleiterin angesichts herumwandernder Eisbären.
Weniger einsam, als es wirkt
Einsam sei es jedoch nicht, findet Hoppe. „Eigentlich ist man eher nie allein“, schmunzelt sie. Zwar sind WLan und Bluetooth verboten, weil deren Frequenzen andere Forschungsexperimente stören würden, doch ein gutes Datenkabel verbindet die Siedlung mit der Außenwelt, und inzwischen gibt es sogar ein Telefonnetz.
Darüber hinaus existiert ein Verein, der eine Sporthalle und eine Sauna betreibt und im Sommer Kajaks und im Frühjahr Skier verleiht. „Im Winter ist alles etwas gemütlicher, eher mal ein Spieleabend oder ein Filmabend“, berichtet die Projektleiterin. Für genügend Beschäftigung sorgt zudem der Zwölf-Stunden-Arbeitstag.
Die Polarnacht, deren Anfang Hoppe auch in diesem Jahr noch miterlebt hat, findet die Forscherin nicht so schlimm, wie man denken könnte. „Ich spüre das zwar total und brauche mehr Schlaf, wenn es immer dunkel ist“, sagt sie. „Aber die Phase mit kurzen Tagen und zwei, drei Stunden Licht finde ich am schwersten, weil der Körper versucht, sich daran anzupassen.“
Viele Menschen leiden sogar eher unter dem Polartag, weil sie durch die anhaltende Helligkeit nicht gut schlafen können, weiß Hoppe. Weil Winterdepressionen trotzdem ein Thema sein können, bereitet das AWI die Mitarbeiter gut vor, stellt schon in der Heimat den Kontakt zur eigenen psychosozialen Betreuung her, damit im Ernstfall die Schwelle niedrig ist, die Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zur Vorbereitung auf den Aufenthalt gehören zudem ein Eisbärtraining und eine medizinische Untersuchung.
Klimawandel in der Arktis betrifft den Fischfang
Es sind vor allem zwei Fragen, die Hoppe immer wieder motivieren, diese Herausforderungen in der Arktis auf sich zu nehmen: „Wie überlebt Phytoplankton ohne Sonne? Die Mikroalgen machen auch Photosynthese, haben aber keinen Stamm wie ein Baum, um sich zurückzuziehen.“ Aus der bisherigen Forschung weiß sie, dass manche Mikroalgen auch während der Polarnacht in der Wassersäule aktiv sind. Sobald sie Licht bekommen, beginnen sie mit der Photosynthese.
„Wahrscheinlich setzen einige von ihnen auf Glück und hoffen, mit wenig Energiebedarf durch die Polarnacht zu kommen“, vermutet Hoppe. Denn das Mondlicht reicht nicht tief genug ins Wasser, damit das Phytoplankton es nutzen könnte. Andere Mikroalgen ernähren sich wahrscheinlich von Bakterien oder gelösten Nährstoffen, wenn das Sonnenlicht fehlt. „Auf jeden Fall gibt es die Annahme, dass sich das mit steigender Temperatur verändern wird“, sagt die Forscherin.
Ihr zweites großes Thema ist die Frühjahrsblüte, zu der die Algen am schnellsten wachsen, ein wichtiges Ereignis für Krebstierchen und das ganze Ökosystem, an dessen Beginn des Nahrungsnetzes die Algen stehen. „Welche Arten sind die Treiber dieser Blüte? Und liegt es an der Wärme oder der Durchmischung des Wassers?“, fragt Hoppe.
Die kommenden Monate in Ny-Ålesund könnten dazu beitragen, diese Fragen zu beantworten – und damit, wie der Klimawandel auch unser Leben verändern wird. Denn zum arktischen Ökosystem gehören einige der produktivsten Fischereigebiete der Erde.