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Interview mit Dirigent François-Xavier Roth "Fehlerlosigkeit ist selbst ein Fehler"

Mit seinem Ensemble Les Siècles eröffnet der Dirigent François-Xavier Roth das Musikfest Bremen. Im Interview spricht er über den Umgang mit Fehlern, seine Liebe zu Mozart und klare Ansagen an Musiker.
15.07.2021, 14:54 Uhr
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Von Kai Luehrs-Kaiser

Herr Roth, Sie eröffnen das Musikfest Bremen mit einer "Großen Nachtmusik". Sind Sie bei so etwas nervöser als bei sonstigen Gelegenheiten?

François-Xavier Roth: Eigentlich nicht. Wir haben gut gearbeitet und haben Freude an der Musik. In meinem Beruf ist man nicht nervös.

Warum nicht?

Erstens, weil ich ja selber keinen Ton von mir gebe. Nervosität kenne ich aus Zeiten, wo ich noch als Flötist im Orchester saß. Und zweitens ist es für mich im Gegenteil von entscheidender Bedeutung, dass ich möglichst vollkommene Entspannung ausstrahle – damit die Musiker nicht nervös werden. Ich kann vielleicht gelegentlich eine leichte Furcht verspüren, dass ein Solist sein Solo nicht richtig spielt. Aber gerade das sollte niemand merken. Meine Aufgabe ist es, Sicherheit zu geben.

Und wenn doch ein Fehler passiert?

Bloß nicht reagieren. Übrigens: Was ist schon ein Fehler? Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Mozart an dem Ideal von Perfektion, wie es heute befolgt wird, sonderlich interessiert war. Ihm ging es nicht um Makellosigkeit, sondern um Ausdruck. Fehlerlosigkeit ist selbst ein Fehler.

In Bremen dirigieren Sie ein reines Mozart-Programm. Warum?

Eben deswegen, weil es das heute nicht mehr sehr häufig gibt. Ich dirigiere Mozart sehr regelmäßig. Wer ihn spielt, hat sich nichts vorzuwerfen.

Weshalb sind Mozarts Werke dann – abgesehen von der „Zauberflöte“, einigen Opern und Klavierkonzerten – so ziemlich in den Hintergrund getreten?

In Deutschland ist das so, aber nicht überall auf der Welt. Es dürfte daran liegen, dass Mozart fälschlich zum Großvater-Repertoire gerechnet wird. Dabei kann man sich kaum jemanden vorstellen, der weniger wie ein Großvater wirkte als er. Mir kommt es heute darauf an, einen zeitgemäßen Mozart zu finden und anzubieten. Wir brauchen ihn dringend. Und das Œuvre ist so groß genug, um man immer wieder Neues zu entdecken.

Wie klingen eine modern interpretierte Haffner oder Linzer Symphonie?

Auf die Frische kommt es an. Mozart darf nicht nach Beethoven und auch nicht nach Haydn klingen. Er hat alles, was er überhaupt gemacht hat, auf ein völlig neues Niveau gehoben. Selbst die Melodien, die er mit größerem Stolz vorzeigte als alle Vorgänger, werden bei ihm ein universales Mittel mit neuen Ausdrucksdimensionen. Zu seiner Zeit war Mozart eigentlich ein Engel.

Hört man Mozarts Konzertarien, zum Beispiel "Alcandro, lo confesso…" und "Vorrei spiegarvi, oh Dio!", vielleicht auch deswegen so selten, weil die Titel so kompliziert sind?

Es liegt eher daran, dass sie für heutige Konzertformate zu kurz sind. Die Akademien zu Mozarts Zeiten boten, anders als heute, ein Bouquet kürzerer Werke. Ein ganzes Mosaik. Mozarts Konzertarien sind kleine Pocket-Opern. Sie bringen Luft in die Konzerte. Und sind meisterlich.

Ihre Solistin bei diesen Konzertarien ist Sabine Devieilhe. Dreist gefragt: Warum eine Französin? Weil Sie selber Franzose sind?

Ich denke nie über Ausweisfragen nach. Sabine ist Sabine. Nur ist sie halt eine der besten Sopranistinnen der Gegenwart, wir kennen uns seit vielen Jahren. Sie ist übrigens nicht einmal sonderlich französisch. Einen typisch französichen Sopran – mit dem charakteristischen Zitronenspritzer im Timbre – besitzt zum Beispiel Natalie Dessay. Sabine Devieilhe dagegen hat viel vollere Farben.

Sie selber repräsentieren keinen grimmigen Maestro-Typus mehr, wie man ihn in früheren Zeiten antraf. Sie sind fast ein Junge von nebenan. Oder?

Stimmt. Ich bin so. Ich denke niemals, ein Dirigent zu sein – obwohl ich es doch bin. Sondern eher, dass ich ein Künstler bin. Diese dienende Auffassung kommt von meiner Familie her, glaube ich.

Sie sind Sohn des französischen Organisten Daniel Roth. Aber schätzen die Orchestermusiker nicht klare Ansagen?

Jawohl, das ist richtig. Ich glaube sogar, dass die Autorität eines Dirigenten nach wie vor im Zentrum seiner Tätigkeit steht. Nur hat sich verändert, was man unter Autorität versteht. Nach wie vor bin ich es, der entscheidet, welches Werk gespielt wird – und wie es gespielt wird. Dafür allerdings muss ich heute den Musikern nicht nur Direktiven geben. Ich muss eine Vision vermitteln, die ihnen Lust macht, mit mir gemeinsam auf eine Reise zu gehen. Um das hinzukriegen, brauche ich durchaus Autorität. Reden muss ich dabei aber nicht unbedingt sehr viel.

Von dem Nachkriegs-Dirigenten Fritz Reiner heißt es, er habe bei Proben in Chicago immer nur höchstens einen Satz gesagt: „Du bist gefeuert!“ – Hätten heutige Dirigenten überhaupt noch die Befugnis, Musiker rauszuschmeißen?

Nein, das geht gar nicht mehr. Heute sind alle Orchester hinreichend demokratisch organisiert, um Leute wie Fritz Reiner zu verhindern. Das hat Vorteile. Ich bin zum Beispiel in der glücklichen Lage sagen zu können, dass ich noch nie im Leben einen Musiker gefeuert habe.

Und wenn Sie trotzdem jemanden loswerden wollen?

Es gibt Situationen, in denen Probleme unübersehbar werden. Dann versuche ich, früh darüber zu reden, um eine Lösung zu finden.

Das Gespräch führte Kai Luehrs-Kaiser.

Zur Person

François-Xavier Roth

wurde 1971 in Neuilly-sur-Seine geboren. 2003 gründete er in Paris sein eigenes Ensemble Les Siècles. Bis 2016 war Roth Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters. Regelmäßige Beziehungen pflegt er zu den Berliner Philharmonikern und zum London Symphony Orchestra. Seit 2015 ist er Generalmusikdirektor der Stadt Köln.

Zur Sache

Mozarts Konzertarien

Mozart hat 60 Konzertarien geschrieben – im Gesamtwerk des Komponisten nehmen sie einen enormen Raum ein. Sie repräsentieren die wichtigsten Beispiele dieser Gattung, auch wenn Aufführungen davon heute recht selten sind. "Alcandro, lo confesso…"  sowie "Vorrei spiegarvi, oh Dio!", beim Musikfest gesungen von Sabine Devielhe, wurden komponiert für Mozarts Jugendliebe Aloysia Weber (deren Schwester Constanze er heiratete). In Mannheim hatte er die Schwestern kennengelernt. In Wien kamen beide Werke bei den sogenannten Akademien zur Aufführung. Dies waren kleine, mehrstündige Privatkonzerte mit Auszügen aus Opern, Symphonien und (in diesem Fall:) Bravourstücken für Sopran. Die Arie "Al destin che la minaccia" aus "Mitridate, re di Ponto" ist sogar noch älter. Mozart war erst 14 Jahre alt, als diese fünfte Oper aus seiner Feder in Mailand uraufgeführt wurde.

Info

François-Xavier Roth und Les Siècles treten bei der "Großen Nachtmusik" des Musikfests am Sonnabend,  28. August, um 18 und 20.30 Uhr in der Glocke auf. Karten gibt es unter anderem bei Nordwest-Ticket unter www.nordwest-ticket.de

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