Herr Roth, Sie eröffnen das Musikfest Bremen mit einer "Großen Nachtmusik". Sind Sie bei so etwas nervöser als bei sonstigen Gelegenheiten?
François-Xavier Roth: Eigentlich nicht. Wir haben gut gearbeitet und haben Freude an der Musik. In meinem Beruf ist man nicht nervös.
Warum nicht?
Erstens, weil ich ja selber keinen Ton von mir gebe. Nervosität kenne ich aus Zeiten, wo ich noch als Flötist im Orchester saß. Und zweitens ist es für mich im Gegenteil von entscheidender Bedeutung, dass ich möglichst vollkommene Entspannung ausstrahle – damit die Musiker nicht nervös werden. Ich kann vielleicht gelegentlich eine leichte Furcht verspüren, dass ein Solist sein Solo nicht richtig spielt. Aber gerade das sollte niemand merken. Meine Aufgabe ist es, Sicherheit zu geben.
Und wenn doch ein Fehler passiert?
Bloß nicht reagieren. Übrigens: Was ist schon ein Fehler? Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Mozart an dem Ideal von Perfektion, wie es heute befolgt wird, sonderlich interessiert war. Ihm ging es nicht um Makellosigkeit, sondern um Ausdruck. Fehlerlosigkeit ist selbst ein Fehler.
In Bremen dirigieren Sie ein reines Mozart-Programm. Warum?
Eben deswegen, weil es das heute nicht mehr sehr häufig gibt. Ich dirigiere Mozart sehr regelmäßig. Wer ihn spielt, hat sich nichts vorzuwerfen.
Weshalb sind Mozarts Werke dann – abgesehen von der „Zauberflöte“, einigen Opern und Klavierkonzerten – so ziemlich in den Hintergrund getreten?
In Deutschland ist das so, aber nicht überall auf der Welt. Es dürfte daran liegen, dass Mozart fälschlich zum Großvater-Repertoire gerechnet wird. Dabei kann man sich kaum jemanden vorstellen, der weniger wie ein Großvater wirkte als er. Mir kommt es heute darauf an, einen zeitgemäßen Mozart zu finden und anzubieten. Wir brauchen ihn dringend. Und das Œuvre ist so groß genug, um man immer wieder Neues zu entdecken.
Wie klingen eine modern interpretierte Haffner oder Linzer Symphonie?
Auf die Frische kommt es an. Mozart darf nicht nach Beethoven und auch nicht nach Haydn klingen. Er hat alles, was er überhaupt gemacht hat, auf ein völlig neues Niveau gehoben. Selbst die Melodien, die er mit größerem Stolz vorzeigte als alle Vorgänger, werden bei ihm ein universales Mittel mit neuen Ausdrucksdimensionen. Zu seiner Zeit war Mozart eigentlich ein Engel.
Hört man Mozarts Konzertarien, zum Beispiel "Alcandro, lo confesso…" und "Vorrei spiegarvi, oh Dio!", vielleicht auch deswegen so selten, weil die Titel so kompliziert sind?
Es liegt eher daran, dass sie für heutige Konzertformate zu kurz sind. Die Akademien zu Mozarts Zeiten boten, anders als heute, ein Bouquet kürzerer Werke. Ein ganzes Mosaik. Mozarts Konzertarien sind kleine Pocket-Opern. Sie bringen Luft in die Konzerte. Und sind meisterlich.
Ihre Solistin bei diesen Konzertarien ist Sabine Devieilhe. Dreist gefragt: Warum eine Französin? Weil Sie selber Franzose sind?
Ich denke nie über Ausweisfragen nach. Sabine ist Sabine. Nur ist sie halt eine der besten Sopranistinnen der Gegenwart, wir kennen uns seit vielen Jahren. Sie ist übrigens nicht einmal sonderlich französisch. Einen typisch französichen Sopran – mit dem charakteristischen Zitronenspritzer im Timbre – besitzt zum Beispiel Natalie Dessay. Sabine Devieilhe dagegen hat viel vollere Farben.
Sie selber repräsentieren keinen grimmigen Maestro-Typus mehr, wie man ihn in früheren Zeiten antraf. Sie sind fast ein Junge von nebenan. Oder?
Stimmt. Ich bin so. Ich denke niemals, ein Dirigent zu sein – obwohl ich es doch bin. Sondern eher, dass ich ein Künstler bin. Diese dienende Auffassung kommt von meiner Familie her, glaube ich.
Sie sind Sohn des französischen Organisten Daniel Roth. Aber schätzen die Orchestermusiker nicht klare Ansagen?
Jawohl, das ist richtig. Ich glaube sogar, dass die Autorität eines Dirigenten nach wie vor im Zentrum seiner Tätigkeit steht. Nur hat sich verändert, was man unter Autorität versteht. Nach wie vor bin ich es, der entscheidet, welches Werk gespielt wird – und wie es gespielt wird. Dafür allerdings muss ich heute den Musikern nicht nur Direktiven geben. Ich muss eine Vision vermitteln, die ihnen Lust macht, mit mir gemeinsam auf eine Reise zu gehen. Um das hinzukriegen, brauche ich durchaus Autorität. Reden muss ich dabei aber nicht unbedingt sehr viel.
Von dem Nachkriegs-Dirigenten Fritz Reiner heißt es, er habe bei Proben in Chicago immer nur höchstens einen Satz gesagt: „Du bist gefeuert!“ – Hätten heutige Dirigenten überhaupt noch die Befugnis, Musiker rauszuschmeißen?
Nein, das geht gar nicht mehr. Heute sind alle Orchester hinreichend demokratisch organisiert, um Leute wie Fritz Reiner zu verhindern. Das hat Vorteile. Ich bin zum Beispiel in der glücklichen Lage sagen zu können, dass ich noch nie im Leben einen Musiker gefeuert habe.
Und wenn Sie trotzdem jemanden loswerden wollen?
Es gibt Situationen, in denen Probleme unübersehbar werden. Dann versuche ich, früh darüber zu reden, um eine Lösung zu finden.
Das Gespräch führte Kai Luehrs-Kaiser.