Frau Louisan, auf Instagram haben Sie Ihren Abonnenten die Frage gestellt, mit welchem Wort sie 2020 beschreiben würden und selbst "Ehrlichkeit" darunter gepostet. Warum?
Annett Louisan: Das war - ehrlich gesagt - eine private Erfahrung, die ich in diesem Jahr gemacht habe. Und es ist sowieso ein wichtiges Wort. Angefangen mit der Ehrlichkeit mit sich selbst. Im Grunde hat es aber auch mit Corona zu tun. Das Jahr, und alles, was wir durchlebt haben, hatte sehr viel mit Ehrlichkeit zu tun, damit, dass wir alle Verantwortung übernehmen - und nicht nur so tun.
Mitten im Lockdown ist mit "Kitsch" Ihr zweites Cover-Album entstanden. War das länger geplant oder eine spontane Corona-Idee?
Dass es "Kitsch" geworden ist, hatte schon viel mit dem zu tun, was passiert ist. Der erste Lockdown war - so merkwürdig das auch klingen mag - fast ein bisschen aufregend. Wir alle haben so etwas noch nicht erlebt, das war fast wie in einem Science-Fiction-Film. Den zweiten Lockdown empfand ich schon als sehr viel härter, weil man mehr wusste und weil einem die Jahreszeit zusätzlich aufs Gemüt schlug. Ich habe gemerkt, dass ich in dieser Zeit sehr dünnhäutig war, mir bestimmte Dinge nicht anschauen mochte und wenn das Maß voll war, ich die Nachrichten ausschalten musste. Ich brauchte das Gefühl einer heilen Welt. Etwas, wo ich mich beschützt und sicher fühle. So ist die Idee zu "Kitsch" entstanden. Zu etwas, das einem ein schönes, warmes, wohliges Gefühl gibt.
Also ist Kitsch für Sie etwas Gutes?
Unbedingt! Kitsch hat immer mit viel Gefühl zu tun. Und diese Seite habe ich sehr stark in mir.
Ein Großteil der Songs - "I Want It That Way" von den Backstreet Boys oder "Friday I'm in Love" von The Cure - ist in englischer Sprache. Das kennt man gar nicht von Ihnen. Warum plötzlich Englisch?
Ich war immer sehr stringent in meinem musikalischen Schaffen und habe mir fast ein Korsett angelegt, um mir meine Marke zu erschaffen. Ich hatte einfach Lust auf eine Herausforderung. Und auch privat höre ich immer schon viel englischsprachige Musik. Irgendwie war das ein Zeitpunkt in meinem Leben, zu dem ich mir das zugetraut habe. Und es gibt einfach auch so unglaublich viele kitschige englischsprachige Lieder. Das Schöne ist: Sie dürfen sogar extra kitschig sein, weil die meisten Menschen nicht sofort auf den Text achten. Sie haben auch einen ganz anderen Pathos, es kann viel dramatischer und ausladender werden, weil man die Vokale so schön schmettern kann.
Sind auf dem Album persönliche Lieblingssongs zusammengekommen, oder wonach haben Sie die Songs ausgewählt?
Das war nicht mein Kriterium. Es sollten Herausforderungen sein, und mein Ziel war auch, Lieder zu nehmen, die im Original gefühlt nicht mehr so gehen, bei denen man denkt: Oh Gott, das? Diese Lieder wollte ich mir zu Eigen machen.
Aber die Backstreet Boys gehen doch immer!
Ganz großes Songwriting. Der Text ist einfach egal. Die Musik ist wie Cola trinken. Das geht runter, so süß. Du merkst sofort den Kick. Ich finde es als Sängerin einfach unglaublich, solche Stücke zu singen. Das ist ein bisschen, wie in den Urlaub zu fahren.
Und die anderen Songs?
"Bitter Sweet Symphony" ist eine Ausnahme. Das ist kein kitschiger Song. Da habe ich es ein bisschen umgedreht und fast was Kitschiges draus gemacht. "Atemlos" wird gleichermaßen geliebt und gehasst. Ich wollte wissen, was da nun dran ist. Und: Es ist einfach ein gut geschriebenes Pop-Stück. Ob man den Text nun mag oder nicht, aber aus einem gut geschriebenen Lied kann man immer etwas machen.
Einige kleine, geheimnisvolle Einblicke in ein kommendes Album geben Sie bereits auf Instagram. Dort haben Sie vor einigen Wochen unter anderem diese Zeilen gepostet. "Wenn ich wüsste, was das wahre Leben ist, dann würde ich ein Lied darüber schreiben." Das heißt, Sie haben noch immer keine Antwort auf diese Frage?
Vielleicht liegt es daran, dass ich mir einen besonderen Beruf ausgesucht habe, der nicht mit festen Arbeitszeiten funktioniert. Das eine ist nicht besser als das andere, es unterliegt nur anderen Regeln. Dem Bauarbeiter tut nach zwanzig Jahren auf dem Gerüst vielleicht das Knie weh, bei uns tut manchmal die Seele weh, weil die Bühne eben auch etwas mit einem macht - dieser Rhythmus, diese ständigen Kicks, das hoch- und wieder runter kommen. Es sind jetzt schon fast 20 Jahre, die ich als Annett Louisan unterwegs bin. Ab und zu, das kann ich ruhig sagen, fühle ich mich schon wie ein Freak.
Inwiefern?
Zum Beispiel, wenn ich meine Tochter mit dem Taxi von der Kita abhole und die Leute mich komisch angucken. Aber manchmal geht es einfach nicht anders, wenn ich gerade vom Bahnhof komme und alles unter einen Hut kriegen muss. Genau das meine ich damit. Man denkt manchmal: Irgendwie ist alles gleich, und irgendwie machen alle Menschen ähnliche Erfahrungen. Es sind aber eben nicht die gleichen. Es kommt ganz auf die Umstände an.
Ihre Texte sind oft sehr persönlich. Als Zuhörer hat man das Gefühl, durch Ihre Songs immer ein bisschen an dem teilhaben zu können, was in Ihrem Leben gerade wichtig ist. Was sind aktuell die Themen, die Sie beschäftigen?
Meine Tochter wird nun vier. Natürlich nimmt sie einen sehr großen Teil in meinem Leben ein, aber ich habe in den vergangenen Jahren gemerkt, dass mir auch meine Arbeit und die Musik sehr wichtig sind und dass ich das miteinander vereinbaren möchte. Ich habe meine neue Platte fast fertig geschrieben. Es sind mittlerweile fast 30 Songs, die müssen jetzt noch produziert werden. Es geht aber weniger um den Alltag einer Mutter, es ist philosophischer. Es geht ums Älterwerden und all das, was das Leben so mit einem macht, wenn man diese Unsterblichkeit verliert.
Das klingt jetzt eher melancholisch...
Das Älterwerden kann auch sehr lustig sein! Das kann man nur mit Humor nehmen. Es gibt wirklich auch positive Aspekte. Ich möchte eigentlich nicht wieder 20 sein. Ich weiß heute so vieles mehr und das fühlt sich auch schön an.
Ist das der größte Vorteil? Das man dazugelernt hat?
Und, dass man sich besser erkennen kann. Ich weiß heute viel mehr über mich selbst. Ich bin früher so blind in die Liebe rein gelaufen. Ich bin fast schon ausgeliefert gewesen. Ich bereue das alles gar nicht, aber je mehr man sich selbst versteht und weiß, was man möchte, desto größer sind die Chancen, glücklich zu werden. Freundschaften, alles wird komplexer. Weil man auch aus seinen Fehlern gelernt hat und verständnisvoller mit Dingen umgeht. Hauptsache nicht bitterer. Da muss man aufpassen, dass man mit dem Alter durch schlechte Erfahrungen nicht bitterer und misstrauischer wird, sondern offener und toleranter. Und das ist für mich eng gekoppelt an Humor. Denn damit kann man alles überstehen. Auch die Patzer und Niederlagen.
Über die haben Sie ja sogar ein Lied geschrieben. In "Die schönsten Wege sind aus Holz" besingen Sie genau diese Fehlentscheidungen und Sackgassen, die das Leben so mit sich bringt. Welche Entscheidung in Ihrem Leben war rückblickend vielleicht blöd, hat sich aber irgendwie trotzdem gelohnt?
Dass ich nicht zu Ende studiert habe und mehr oder weniger ohne Plan B alles auf eine Karte gesetzt habe und Sängerin werden wollte. Es gab ja auch eine große Chance, dass das alles nicht hingehauen hätte. Ich war naiv und brennend und habe das einfach gemacht. Ich bin froh, dass ich so wenig ängstlich war und mehr an mich geglaubt habe, als das vielleicht andere getan haben.
Sie würden also auch anderen raten, einfach mal mutig zu sein?
Mut ist ganz wichtig! Seine Angst zu überwinden, Dinge zu tun, vor denen man am meisten Angst hat - das zu schaffen ist ein Kraftakt, aber macht mich am glücklichsten. Der Gang auf die Bühne hat mich viel Kraft und Mut gekostet. Ich habe noch immer Lampenfieber. Und mit einem riesigen Selbstwertgefühl bin ich auch nicht gesegnet. Aber das kann auch ein Motor sein, Dinge anzupacken.
Am 16. Juli geben Sie ein Konzert auf der Bremer Seebühne. Wie sehr freuen Sie sich, wieder vor Publikum zu spielen?
Es ist das erste Konzert nach langer Zeit. Ich muss ein bisschen aufpassen, dass ich nicht anfange zu weinen. Ich werde es auf jeden Fall feiern. Und dann auch noch in Bremen, da ist immer ein gutes Publikum.
Ach, das sagen Sie doch in jeder Stadt.
Nein, es gibt wirklich Unterschiede. In Bremen habe ich noch nie ein richtig schweres Konzert gespielt. Ich hatte schon Shows, da war das Publikum so ruhig, da kam nichts zurück. Man arbeitet sich da ab wie ein Ackergaul und fragt sich nur: Haben die das jetzt gemocht?
Kann sich das Publikum auf noch unveröffentlichte Songs freuen?
Ein neuer Song wird auf jeden Fall dabei sein. Die Sommerkonzerte werden gnadenlos für Tests vor Publikum ausgenutzt.
Das Gespräch führte Alexandra Knief.