Schon vor Konzertbeginn ist die Luft in der Halle heiß und stickig. Das ist nur bedingt angenehm, aber sinnig. Zum einen, weil der Sänger und seine musikalischen Begleiter bei diesem „MTV unplugged“-Format auf Schemel und Barhocker drapiert werden, als seien sie Protagonisten einer handelsüblichen Honky-Tonk-Show in den Südstaaten. Zu dieser Anmutung fügt sich das Äußere des gut behüteten Zeremonienmeisters so trefflich wie seine vereinzelten, aber stimmungsvollen Ausflüge ins Mundharmonika-Fach.
Zum anderen passt die träge Witterung, weil Marius Müller-Westernhagen, dessen Geburtstag sich am 6. Dezember zum 70. Mal jährt, besonders authentisch und also bei sich wirkt, wenn er den Blues hat – und dieser ihn. Entsprechend gelungen gerät in der Bremer ÖVB-Arena das Bluesrock-Juwel „Ladykiller“, einer der umjubelten Auftaktsongs eines Konzerts, dessen Fundament bereits vor mehr als zwei Jahren gelegt wurde, als der Filmregisseur Fatih Akin den Deutschrocker in der Berliner Volksbühne als Meister leiserer Töne und abgespeckter Arrangements inszenierte.
Hohe Kunst der Jam-Session
Intimität und Aura dieser Urszene, die sich an zwei Abenden im Juli 2016 zutrug (und als Konzertfilm vorliegt), lassen sich in der Bremer Mehrzweckhalle zwar nicht verlustfrei wiederholen – dafür ist die hiesige Bühne zu wuchtig und schafft zu viel Distanz zum Publikum. Und doch hat man in den besseren Momenten des bestuhlten Konzerts den wohligen Eindruck, als sei ein in Würde gealterter Proberaummucker zu besichtigen, um sich in der hohen Kunst der Jam-Session zu üben.
Zu dieser entschleunigten Atmosphäre passt auch „Hass‘ mich oder lieb‘ mich“, ein 1980 auf dem süffigen Album „Sekt oder Selters“ veröffentlichter Song über hygienische Erfordernisse einer Affäre („Bezieh das Bett frisch, damit er nichts merkt / Und meinen Geruch, den duschst du dir ab“). Marius, alternder Zirkusgaul im Dienste eines Unterhaltungsbetriebs, der für Gnadenbrot Leistung erwartet, ist ordentlich bei Stimme; gekrächzt und gekiekst, geraunzt und geröchelt hat er schon früher, dass es eine Art hatte.
Ein „dürrer Hering“, wie eine Selbstauskunft im satirischen Song „Dicke“ (auf dem 78er-Album „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“) lautet, ist der in Düsseldorf geborene Musiker physiognomisch geblieben, der in den 80er-Jahren auch als Schauspieler wirkte ("Theo gegen den Rest der Welt", "Der Schneemann"). Wenngleich sein Gesicht, das dem Bremer Auditorium anfangs auffällig wenig zugeneigt ist, 2018 mehr an das Antlitz einer Schildkröte erinnert (mutmaßliche Altersweisheit inbegriffen).
Anders als im Frühsommer seines Lebens, als er wiederholt in der Bremer Stadthalle als vor Energie überbordender Zappel-Marius über die Bühne tollte und kobolzte, wirken das Setting und die Setlist weitgehend gesetzt, ja passagenweise gravitätisch. Dazu passt, dass "Mit Pfefferminz", der erste Über-Hit des Abends, gemächlicher und also zahnloser klingt als bei früheren Auftritten (und auf kanonischen Plattenaufnahmen). Seine Up-Tempo-Nummern indes sind für dieses Format nur bedingt tauglich.
Marius möchte nicht als aus der Zeit gefallenes Fossil erinnerlich bleiben. Weshalb er seine stimmig zusammengestellte Werkschau (von "Sexy" bis "Alphatier", von "Es geht mir gut" bis "Nur ein Traum") mit Kommentaren zur aktuellen Weltlage unterfüttert. Nicht ganz überraschend arbeitet er sich dabei auch am amtierenden US-Präsidenten ab, dem er einen Gastauftritt in "Für 'ne bessere Welt" einräumt, einem Höhepunkt des 89er-Albums "Halleluja". "Baby, lass uns Trump verjagen / Für 'ne bessere Welt", heißt es in der aktuellen Version.
Weniger politisch als gefühlig geht es zu, als der Künstler mit Lebensgefährtin Lindiwe Suttle das empfindsame Duett "Luft um zu atmen" intoniert, das allein schon wegen des Hallenklimas lohnt. Dass der Protagonist die südafrikanische Sängerin während des Liedvortrags nicht anschaut und sich dann zu verjagen scheint, als sie ihm nach vollbrachter Arbeit einen Kuss geben will – geschenkt. Denn auch wenn er sich im Zuge seiner Laufbahn ein ums andere Mal als cooler Lautsprecher und als rauer Virtuose in Sachen Publikumsanimation präsentiert hat: Oft genug hat dieser zarte Mann den harten Macker mit derbem Vokabular mehr vorgegeben als tatsächlich verkörpert; hat mit dem Stadionrock gefremdelt, zu dessen deutschem Hauptvertreter er Anfang der 90er-Jahre avancierte; hat sich seine Blues-Wurzeln spät und mühsam wieder zusammengeklaubt.
Dafür steht das bemerkenswerte Album "Williamsburg" (2009), dessen Entstehungsort zugleich eine neue Qualität der Zusammenarbeit mit Musikern aus Übersee begründete. Entsprechend aufgestellt ist seine bestens eingespielte, gut dutzendköpfige Begleitband, Streicher und Backgroundsänger inklusive. Carl Carlton, fingerfertiger Gitarrist mit ostfriesischen Wurzeln, verdient sich den größten Jubel. Der zweitgrößte gebührt dem textsicheren Publikum, das wacker der Schwüle trotzt – und seinem Helden ein gefälliges Hochamt der Nostalgie bereitet.