Wie viele Gehstöcke und Brillenetuis sind wohl während der drei Wochen des Musikfests zu Boden gepoltert? Wie oft wurde im Halbdunkel trotz klarer Ansage des Veranstalters mitgefilmt? Die lauten Huster an leisen Stellen, die Handy-Töne, wer fasset ihre Zahl? Simple Formen der Rücksichtnahme und ein Mindestmaß an Konzentration scheinen manchen Konzertbesuchern längst völlig abhandengekommen.
Beim Klavierabend mit Igor Levit in der Glocke kam vor der Pause vieles zusammen. Zuspätkommer forderten ihre Plätze ein. Andere Hörer mochten sich nicht in Ruhe auf eine Folge von sechs intimen Klavierstücken einlassen und klatschten dazwischen. Zu Bach-Fuge und Brahms-Ballade ließ ein Herr in Reihe fünf gellend den Diabetiker-Alarm durchfiepen. Permanente Unruhe, das volle Programm. Levit verspielte sich kurz, versuchte, die Spannung zu halten und, gegen Ende des Abends, die Respektlosigkeiten scherzhaft abzutun. Aber letztlich würde es nicht wundern, wenn dieser Künstler Bremen hiernach für immer den Rücken kehrt.
Dabei war der Einstieg gut gelungen. In Johann Sebastian Bachs Chromatischer Fantasie d-Moll BWV 903 versuchte er nicht wie andere, Strukturen im minutenlangen Passagenwerk zu entdecken, sondern steigerte sich (wie ein Cembalist) in einen wilden Rausch, der nur manchmal in ein paar Akkorden ein Atemholen gestattete. Die Fuge, schlicht wie ein Kinderlied angestimmt, bildete dazu den sanften Kontrast.
Levits Verhältnis zu Johannes Brahms scheint problematischer. In den sechs Klavierstücken op. 118, speziell in den ruhigen Intermezzi, stellte er gern kristalline Melodien im Diskant einem atmosphärischen, aber reichlich mulmigen Raunen im Bass gegenüber. Mit großen Brahms-Spielern vom prägnant ausmodellierenden Virtuosen Julius Katchen bis zum verinnerlichten Lars Vogt im Ohr, durfte man Levits Ansatz als eindimensional empfinden, ob nun im zarten, aber geheimnislosen A-Dur-Intermezzo oder im allzu geradlinig durchgezogenen Hauptteil der Ballade g-Moll. Aber manches war sicher der Geräuschkulisse geschuldet.
Nach wie vor kommt Levit am besten in Fahrt, wenn er sich schweißtreibende Notenberge aufs Pult stellt. Wie Franz Liszts Transkription der 7. Sinfonie A-Dur von Ludwig van Beethoven. Natürlich braucht man solche Musikkrücken im Zeitalter der Schallaufzeichnung nicht mehr, und interpretatorisches Neuland entdeckt auch ein Levit nicht. Aber wie berserkerhaft er nach etwas tüfteligem Beginn Schneisen ins höllisch schwere Notendickicht schlug, das faszinierte als Nachklang romantischen Virtuosentums.
Flott durchgestaltet und ins Nichts gedimmt der Trauermarsch, keck gehüpft das Scherzo mit präzisen Übergängen von den nachdenklichen Trio-Teilen. Das wirbelige Finalthema, zunächst mit der Ungerührtheit eines Duracell-Hasen gedroschen, steigerte sich trillernd und kreiselnd in höchster Virtuosität – einmal mehr donnerte Igor Levit seine Hörer imponierend nieder. Die applaudierten stehend.
Die Zugabe, das letzte Chopin-Nocturne, gestaltete Levit dann so subtil, so zart, dass im Publikum fast völlige Stille einkehrte. Endlich.