Der Tristan-Akkord steigt aus dem Flügel auf, endlose Sehnsucht möchte sich ausbreiten, da macht's "Plöng"! Ein Handy-Signalton unterbricht die Stille, und die Atmosphäre ist zum Teufel. Ein Alfred Brendel hätte verärgert die Bühne verlassen und wäre nie wiederkommen. Pianist Igor Levit reagiert lockerer. Er bricht ab, schüttelt sich vor Lachen und japst ironisch "Ich liebe Live-Konzerte". Das Publikum dankt ihm solche Coolness mit Applaus und verfolgt amüsiert, wie Levit eine Weile braucht, wieder zurück zur Musik zu finden.
Es war ein besonderer Abend am Donnerstag in der Glocke. Mit schwarzem Bart und schwarzem Hemd, inzwischen 35 Jahre alt, bringt dieser Ausnahmekünstler nicht nur ein überaus ernstes Programm mit, er hat auch die Ruhe weg. Das war schon im ersten Teil zu spüren. Mit den elf Choralvorspielen op. 122, dem letzten Werk von Johannes Brahms, haben ja selbst Organisten ihre Schwierigkeiten. Hier komponiert ein alter Mann im Angesicht des Todes ein chromatisch und kontrapunktisch verzwirbeltes letztes Wort, aus dem sich nicht mal die Melodie des Adventsliedes "Es ist ein Ros entsprungen" heraushören lässt.
Tief in die Tastatur versunken
Doch Levit – er spielte die sechs Stücke, die Ferruccio Busoni kongenial aufs Klavier verpflanzt hat – brachte ihre Gedankentiefe zum Leuchten. Tief in die Tastatur versunken, baute er aus ein paar Motivsteinchen im Bass eine klingende Kathedrale voll Donnerhall auf oder ließ zärtlich den Heiligen Geist aus der Höhe herabschweben. Und die melodiösen Terz- und Sextgänge in der zweiten Version von "Herzlich tut mich verlangen" durften wohlig aufstrahlen. Ohrenschmeichler! Levit verführte nicht nur zum genauen Hinhorchen, sondern strahlte auch eine Ruhe aus, die im Vorweihnachtstrubel äußerst entspannend wirkte.
Weniger gehaltvoll fielen daneben die Variationen über das amerikanische Volkslied "Oh Shenendoah" aus, die der US-Jazzkomponist Fred Hersch für Levit geschrieben hat. Das 20-Minuten-Werk hätte von 1880 stammen können, die anderthalb Dutzend Variationen klangen wie Komponieren nach Zahlen. Hier eine Prise Liszt, dort ein Schuss Brahms oder Saint-Saëns, manchmal war es auch einfach Salonmusik. Nett zu hören, gut gespielt, aber ganz ohne Ewigkeitswert.
Virtuos aufs Ganze gegangen
Doch der Doppelwumms folgt eh erst nach der Pause. Die Handy-Störung bringt den Vorteil mit sich, dass danach jeder konzentriert auf der Stuhlkante sitzt und sich selbst die Dauerhuster für längere Zeit zurückhalten. So kann Levit nicht nur tief in Zoltán Kocsis' sehr reduzierte, etwas spröde Klavierversion von Richard Wagners "Tristan"-Vorspiel" abtauchen, sondern auch nahtlos das Hauptwerk des Abends anschließen: Franz Liszts Klaviersonate h-Moll. Die zwei Oktavschläge und das absteigende Motiv im Bass, sehr verhalten gesetzt, wirken wie die logische Fortsetzung des Opernvorspiels.
Dieses einsätzige Halbstundenwerk gelingt im Konzertsaal fast immer, auch Igor Levit geht virtuos aufs Ganze, erzeugt den Sog, der hier nötig ist. Dass Wagner von Schwiegervater Liszt nicht nur den "Tristan"-Akkord, sondern auch die Verarbeitung von Leitmotiven abgeguckt hat, lässt sich genau verfolgen. Der Pianist setzt auf starke Kontraste. Hier hämmert das Klopfmotiv bis zum Umfallen, dort blüht die Liebestraum-hafte Melodie, mal ein Total-Zusammenbruch, dann wieder ein neuer Anlauf. 760 Takte schäumt ein emotionales Wechselbad, denen am Ende auch der hartnäckige Handystörer nicht mehr schaden kann. Riesenjubel.
"Meine Eigenkomposition: 150 Variationen über einen Klingelton", als Zugabe angekündigt, verkniff sich der Schelm zum Glück. Es wurde, sehr versonnen, sehr breit, Schumanns letzte Kinderszene "Der Dichter spricht".