Herr Phillips, Sie leiten einen der bedeutendsten A-cappella-Chöre der Welt. In Deutschland trifft man Sie fast nie. Ist das so gewollt?
Peter Phillips: Eigentlich nicht. Fast alle Künstler, auch wir, wollen gerne überall auftreten. Wir waren schon ein paar Mal in Bremen, was aber teilweise schon sehr lange zurückliegt. Dass wir kaum in Deutschland auftreten, liegt vor allem daran, dass unser Agent hierher keine Verbindungen hatte. Das soll sich ändern.
Sie haben die "Tallis Scholars" vor fast 50 Jahren gegründet – zunächst als Laien-Chor. Wie ist es möglich, dass solche Super-Profis aus Ihnen geworden sind?
Ehrlich gesagt, waren wir damals nur noch nicht ganz fertig ausgebildet. Dass wir Laien gewesen seien, wie man oft lesen kann, stimmt also in Wirklichkeit nicht ganz. Übrigens bezeichnen wir uns selber nicht gerne als Chor, lieber als ein Ensemble. Chöre, finde ich, fangen erst an, wenn man mindestens vier Sänger pro Stimmgruppe hat. Bei uns sind es nur zwei.
Ihre Mitglieder kamen aus Cambridge und Oxford, also zwei absolut rivalisierenden Universitätsstädten. Hat das keinen Zoff gegeben?
Auch hier muss ich mit einem Mythos aufräumen. Fast alle Sänger kamen aus College-Chören in Cambridge – vor allem vom Kings-College. Aus Oxford dagegen kam nur ich.
Warum haben Sie kampflos so einfach die Seiten gewechselt?
Ich hatte keine andere Wahl. Die Sänger aus Cambridge waren einfach viel, viel besser…
Ihr Ziel war es, einen einzigartigen Klang zu erreichen. Was für einen?
Einen Schönklang, keine Frage. Aber einen ohne Weichheit und ohne Verwaschenheit. Unser Klang – ein gutes Wort – sollte Stärke ausstrahlen und sogar eine gewisse Härte. Er sollte kernig sein, bei natürlich voll ausgeprägter Flexibilität. Ich glaube, das war damals so eine Art orale Vision von mir, denn ich hatte den Klang, der mir vorschwebte, nirgendwo je gehört.
Haben Sie ihr Klang-Ziel, von heute aus betrachtet, ganz erreicht?
Es hat ein paar Jährchen länger gedauert, als ich dachte. Heute aber ist der Klang so, wie ich ihn mir gewünscht habe. Ich brauche nicht einmal mehr viel daran zu tun oder nachzubessern. Die Sänger verändern sich, aber sie vererben unseren Klang trotzdem von Generation zu Generation weiter. Am besten gelungen ist er natürlich auf Platten.
Wie also macht man diesen Klang?
Entscheidend ist, nicht zu viel Vibrato zu haben, aber auch nicht zu wenig. Wenn ich den richtigen Klang im Konzert höre, können Sie mir das übrigens sofort am Gesicht ablesen, wie ich glaube...
Woran?
Ich lächle dann so ein bisschen dösig vor mich hin.
Kommt das oft vor?
Immer öfter. Ich bin natürlich längst der Älteste innerhalb des Ensembles. Hat also vielleicht auch etwas damit zu tun.
Warum haben Sie sich von Anfang an ausgerechnet auf Renaissance-Musik spezialisiert?
Weil alle, irgendwie alle um mich herum, damals anderes machten. Nämlich Barockmusik. Ich dagegen wollte auf alle Begleitinstrumente verzichten. Ich mag sie nicht. Mir schwebte vor, dass wir als Vokalensemble einen instrumentalen Klang entwickeln. Übrigens haben wir sehr bald auch zeitgenössische Musik gemacht. Mit John Tavener war ich lange Jahre befreundet. Mein Favorit unter den heutigen Komponisten ist Arvo Pärt.
Wie erklären Sie es sich, dass alle Welt auf Renaissance-Gemälde fliegt, während die Musik derselben Epoche ein Schattendasein führt?
Ich glaube, in Deutschland könnte es damit zusammenhängen, dass man hier mit Dürer, Cranach und so zwar in der Renaissance großartige Maler findet, aber kaum gleichrangige Komponisten. Heinrich Isaac stammte aus Flandern. Michael Praetorius steht schon am Übergang zum Barock. Dass keine Begleitinstrumente vorkommen, dürfte auch eine Rolle spielen. Vor allem liegt es aber daran, dass man die Renaissance-Musik einfach überhaupt nicht kennt, weil sie in den meisten Städten eben viel zu wenig angeboten wird. Und das ist nicht nur in Deutschland das Problem, sondern fast überall.
In Bremen singen Sie ausschließlich Werke eines der größten Renaissance-Komponisten überhaupt, nämlich von Josquin Deprez. In diesem Jahr jährt sich sein Todestag zum 500. Mal. Gibt es bei Josquin so etwas wie ein absolutes Hauptwerk?
Eine mögliche Antwort wäre: die “Missa Hercules Dux Ferrariae”. Es ist ein Meisterwerk. Die ehrlichere Antwort lautet: massenweise Messen. In Bremen konzentrieren wir uns in drei verschiedenen Kirchen übrigens auf kürzere Werke. Und zwar innerhalb von Wandelkonzerten. Es wird eine lange Vokalnacht werden. Die Programme sind thematisch auf verschiedene Städte bezogen: Ferrara, Rom, Mailand, Venedig, Innsbruck und Wien. Ich würde kürzeren Stücken nicht grundsätzlich den Vorzug geben. Was wir ausgewählt haben, sind richtig gute Werke.
Gibt es für die Form von Wandelkonzerten in der Renaissance eine historische Entsprechung? Einen historischen Grund?
Durchaus. Wandelkonzerte, in denen sich das Publikum durch den Raum bewegen kann, sind in gewissem Sinne die Fortsetzung der katholischen Prozession. Josquin selber war ein so großer Freund von Prozessionen, dass er Geld sparte, mit dem man nach seinem Tod eine jährliche Prozession für ihn abhalten sollte.