An der jüngsten Karriere des Hass-Begriffs in den sozialen Netzwerken, die vor allem in Verbindung mit der anhängigen Flüchtlingskrise steht, ist Karl Heinz Bohrer wenig interessiert. Vielmehr reizen den Nestor der deutschen Literaturtheorie („Plötzlichkeit“, „Die Ästhetik des Schreckens“) die Ausformungen dieses Affektes in der Literaturgeschichte. Darin sucht und findet der 87-Jährige schlagende Beispiele für seine These, nach der starke Negativgefühle in poetischen Texten mit besonders expressiven Artikulationsformen im Bunde sind.
Es ist nachvollziehbar, dass Bohrer die Rolle des Hasses in der literarischen Rede vorzugsweise anhand kanonisierter Schriftsteller überprüft. Darunter sind Shakespeare und Marlowe, Milton und Swift sowie die Extremisten Heinrich von Kleist und Charles Baudelaire. Von besonderem Reiz sind freilich Bohrers smarte Lektüren, die die unmittelbare Gegenwart der Literatur betreffen: In Österreich sieht er, gewissermaßen in der Nachfolge von Karl Kraus‘ „Gleichmaß der puren Attacke gegen alles und jeden“, einen spezifischen Nährboden für eine Rhetorik der Aversion, ja der (suggestiven) Vernichtung.
Reichlich fündig wird der elegante Stilist Karl Heinz Bohrer bei den zynischen Theater- und Romanfiguren von Thomas Bernhard wie auch bei manchen aggressiven Charakteren in den Texten Elfriede Jelineks. Und auch bei Peter Handke, der sich gern von Feinden umringt wähnt, gibt es viel zu entdecken. Beschlossen wird Bohrers lohnender Essay mit einer erstaunlichen Betrachtung zum destruktiven Imponiergehabe des französischen Misanthropen Michel Houellebecq und seiner papiernen Figuren.
Weitere Informationen
Karl Heinz Bohrer: Mit Dolchen sprechen.
Der literarische Hass-Effekt. Suhrkamp, Berlin. 494 Seiten, 28 €.