Ein kleines Aufnahmestudio im Dachgeschoss eines Hauses in der Neustadt: ein Tisch mit Stuhl und zwei Sessel, drei Mikros, ein Aufnahmegerät. Die Atmosphäre hier mit Parkettboden, Bücherregal und Fotowand wirkt angenehm und persönlich. Seit Ende 2023 entsteht hier einmal im Monat der Podcast „Spektrakulär - Eltern erkunden Autismus“ des Martinsclub Bremen. Gastgeber sind die Radio-Journalistin Mirjam Rosentreter sowie der Therapeut und Dozent Marco Tiede.
Beide haben selbst Kinder im Autismus-Spektrum, wie man diese Form einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung heute nennt. Kennengelernt haben sie sich bei einem Elternkreis des Martinsclub, den es bereits seit 2009 gibt und den beide bis heute moderieren. „Nach den Veranstaltungen haben wir oft noch zusammengestanden und uns unterhalten. Daraus ist dann die Idee für ein Zuhörformat entstanden“, erinnert sich Mirjam Rosentreter an die Anfangszeit des Podcasts, der für fünf Jahre über Projektgelder der Aktion Mensch sowie von zwei Stiftungen finanziert wird. Inzwischen verzeichnet „Spektrakulär“ monatlich zwischen 2300 und 2800 Streams.
In den allermeisten Fällen sind Autisten zu Gast in der Sendung, die aus ihrem Leben erzählen und darüber, welche Erfahrungen sie gemacht haben. „Der Podcast ist für drei Zielgruppen gedacht: für Autisten selbst, für Angehörige und für das Umfeld. Wir wollen aber auch Menschen erreichen, die meinen, sie hätten gar nichts mit dem Thema zu tun“, sagt Mirjam Rosentreter. Zumal es auch viele Menschen gibt, bei denen ihr Autismus erst im Erwachsenenalter entdeckt wird.
Wie bei Imke Heuer, die an diesem Tag als Expertin im Studio von „Spektrakulär“ zu Gast ist, um ihre Einschätzung für eine spätere Podcast-Folge einzusprechen. Das Thema: gestützte Kommunikation für Autisten. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin war Mitte 30, als sie vor 13 Jahren ihre Autismus-Diagnose bekam. In einem früheren Spektrakulär-Podcast berichtete Heuer wie sie über den Austausch mit anderen Autisten Ähnlichkeiten mit sich selbst festgestellt hat: Eine andere Wahrnehmung vieler Dinge, Mechanismen zur Selbstregulierung und Reizverarbeitung. „Das war dann schon ein langer Verarbeitungsprozess, weil das auch das eigene Leben noch mal in einem anderen Licht erscheinen lässt“, sagt Heuer über die Zeit nach der Diagnose.
Inselbegabungen sind selten
Heute forscht sie zur Entstigmatisierung von psychiatrischen Krankheiten. „Auch autistische Menschen sollten untereinander solidarisch sein“, ist ihre Forderung. „Uns geht es darum, das Nischenthema Autismus in der Öffentlichkeit bekannter zu machen und darüber aufzuklären“, sagt Marco Tiede. Immer noch sei das alte Bild des zwar etwas sonderlichen, aber hochintelligenten Autisten wie in dem bekannten Film „Rain Man“ mit Dustin Hoffman und Tom Cruise vorherrschend.
Fakt ist: Bei Autisten haben sich Gehirn und Nervensystem anders entwickelt, weshalb diese Menschen ihre Umwelt anders wahrnehmen. Das wiederum kann unterschiedlich starke Auswirkungen auf ihre Kommunikation, ihre soziale Interaktion und ihre Handlungsplanung haben. Manche Autisten haben einen sehr hohen Unterstützungsbedarf, andere leben vollkommen selbstständig. Daher rührt auch der Name des Podcasts: „Spektrakulär“ bezieht sich auf das breite Spektrum, die Vielfalt an autistischen Ausprägungen.
Autisten mit Inselbegabungen wie das im Alltag völlig überforderte Mathematik-Genie Raymond in „Rain Man“ sind allerdings höchst selten. „Die meisten Autisten sind durchschnittlich intelligent, kämpfen mit ihren Strategien zur Reizverarbeitung und versuchen, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen“, erklärt Marco Tiede aus seiner alltäglichen Arbeit als Autismus-Therapeut. Was er damit meint, ist das sogenannte Stimming: repetitive Bewegungen wie Körperschaukeln und Handflattern oder ständig wiederholte Geräusche und stereotype Fragen. Verhaltensweisen, die der Beruhigung und Selbstregulierung bei Reizüberflutungen dienen.
„Wir sollten aber auch verstehen, dass Menschen, denen man ihren Autismus nicht ansieht, da sie verbal gut aufgestellt sind, oft sehr viel Energie aufbringen, um unauffällig zu erscheinen“, betont Marco Tiede. Was er meint, ist das Phänomen des Maskierens, also der Unterdrückung der auffälligen Verhaltensweisen. Das wiederum kann schwerwiegende Folgen haben wie Burn-Out, Depressionen, körperliche Krankheiten und Selbstmordgedanken.
Behinderung oder einfach nur etwas anders?
Laut Mirjam Rosentreter gibt es heute in der Community und unter den Experten, die mit Autismus zu tun haben, zwei Wahrnehmungen: Manche empfinden Autismus als Behinderung, andere als eine andere Form des Seins, eine Neurodivergenz, also eine Abweichung von als „normal“ oder „gesund“ empfundenen Verhaltens- und Denkformen. „Manche dieser Menschen haben besondere Bedürfnisse und manche auch besondere Fähigkeiten“, meint die Journalistin.
Auch kontroverse Gäste sind bei Spektrakulär willkommen. Wie der Youtuber Tom Harrendorf, der mit seinen plakativen Thesen zur Überwindung von Autismus durch die persönliche Entwicklung für Debatten in der Community sorgt. Eine Krankheit jedenfalls, da sind sich die beiden Podcast-Macher Marco Tiede und Mirjam Rosentreter einig, ist Autismus nicht.